Die künstlerischen Flüchtlinge Lucia Lacarra und Marlon Dino sprachen erstmals öffentlich über ihren Zwist mit dem kommenden Chef vom Bayerischen Staatsballett

Weltstars als künstlerische Flüchtlinge.

Marlon Dino und Lucia Lacarra – was für ein Paar! Dennoch sind die Weltstars des Balletts derzeit auf der Flucht… Foto: Andrea Mogwitz

Sie haben ihre künstlerische Heimat verloren. Im Grunde sind sie Flüchtlinge. Die Weltstars Lucia Lacarra und Marlon Dino vom Bayerischen Staatsballett werden diese Compagnie, die ihnen vierzehn Jahre lang ein Zuhause des Tanzes war, verlassen. Denn der kommende russische Ballettdirektor Igor Zelensky weiß die hohen Befähigungen und die hochkarätige Kunst der beiden nicht wirklich zu schätzen; gerade mal eine einzige Aufführung mit seinem geplanten Glanzstück „Spartacus“ wollte er der Supraballerina Lacarra, einer gebürtigen Spanierin, zugestehen. Und auch sonst sollte das Münchner Publikum sie künftig nur vereinzelt und nicht mal ein Dutzend Mal in der kommenden Spielzeit sehen. Huch! Die unzumutbaren Angebote, die Zelensky in zähen Verhandlungen an das glamouröse Paar machte, führten zu dessen Entscheidung, sich aus Münchens Ballettbetrieb einstweilen zurückzuziehen, um an anderen Orten das Publikum zu begeistern. Tja.

Ah, und das Gespann Lucia-Marlon begeistert ja weltweit! In Tokyo, in Berlin, in Peking, in den USA, in – ach, überall. Immer wieder jubeln die Leute und sind berührt, sogar die Vorzeigerussin Svetlana Zakharova zog schon ihren Hut – und im Münchner Nationaltheater sorgte das gar nicht klischeetypische Paar jahrelang für ein ausverkauftes Haus.

Sie begeistern mit einer Spannung und einer Erotik, einer technischen Finesse und einem so starken Ausdruck, wie sie selbst in den höchsten Kreisen des Ballettadels wirklich selten sind. Sie haben ein einmaliges Flair, einzeln, aber vor allem auch als Paar. Da stimmt jeder getanzte Atemzug der beiden – und jede große oder kleine tänzerische Bewegung. Ein Augenschmaus! Man muss schon ein Funktionär ohne Herz sein, um das geflissentlich zu übersehen.

Im „Lux“, einem kleinen Lokal neben dem etwas bekannteren „Due Passi“ in München, war es am Nachmittag des 1. Juni 2016 etwas seltsam von der Stimmung her.

Weltstars als künstlerische Flüchtlinge.

Lucia Lacarra und Marlon Dino im gemütlich-schummrigen Licht des Lokals „Lux“ in München, wo am 1.6.2016 die Vorstellung ihrer Pläne vor der Presse stattfand. Foto: Andrea Mogwitz

Neugierde und Traurigkeit lagen in der Luft, aber auch Disziplin und Souveränität. Die Beleuchtung war indes spärlich, und obwohl „Lux“ aus dem Lateinischen übersetzt „Licht“ heißt, erhellten hier eher die Worte und Gedanken als die Lampen und Lämpchen den Raum.

Rund ein Dutzend Journalisten hatte sich eingefunden, um der zierlichen Lucia Lacarra und dem stattlichen Marlon Dino, die auch privat ein Paar sind, zu lauschen. Es war keine professionell durchorganisierte Pressekonferenz, die hier über eineinhalb Stunden andauerte, sondern es handelte sich um ein eher im persönlichen Stil geführtes Gespräch.

Das machte es nochmals authentischer.

Vieles kam hier zur Sprache, das die Vorgänge der letzten Monate hinter den Kulissen des Bayerischen Staatsballetts im Rückblick verständlich macht. Lucia Lacarra fasst ihre Bemühungen, sich mit Zelensky einig zu werden, in klaren Worten so zusammen: „Ich liebe das Tanzen, es ist mein Leben. Aber ich kann nicht mit einer Person arbeiten, die mich so behandelt wie Igor Zelensky es getan hat.“ Wenn eine Primaballerina ihres Zuschnitts, die überall auf der Welt auf den Ballettbühnen willkommen ist und mit allen möglichen Leuten klar kommt, das sagt, dann muss da ganz schön was dran sein. Und es schneidet eine herbe Kerbe in das idyllische Image vom feinen, noblen Ballettuniversum. Aber das ist gut so, damit wir sehen, was hinter der Oberfläche versteckt liegt!

Womöglich erwirbt sich da bald jemand den Spitznamen „Igor, der Schreckliche“. Womöglich rechnet er sogar damit?

Weltstars als künstlerische Flüchtlinge.

Lucia Lacarra auf ihrer Pressekonferenz im „Lux“: Sie ist schön, gebildet, gefasst. Und sie trägt einen geschmackvollen Anhänger, der ein Blatt des Tempelbaums Gingko darstellt. Foto: Andrea Mogwitz

Da benimmt sich der künftige Herrscher über eine der besten Compagnien Europas offenbar so hoffärtig, als käme er in ein rückschrittliches Land. Glaubt Igor Zelensky, er sei der Einzige, der wisse, was Ballett ist? Glaubt er nicht, dass andere, deren Kunst und Karriere sie noch weit höher trug als ihn, sich da sogar besser auskennen als er?

Was wird er sagen, wenn das Münchner Publikum kommende Spielzeit einen Boykott beschließt und das Haus an Ballettabenden weitgehend leer bleibt?

Und genügt es wirklich, sich mit dem Hinweis, man sei ja Russe, für jede Unartigkeit zu entschuldigen? Wir haben so etwas schon vom Dirigenten Valery Gergiev erlebt, der seinen Schwulenhass mit einer Art Putin-Treue rechtfertigte – und diese gleich noch mit der russischen Kultur allgemein gleich setzte. Auch Gergiev wurde nach München berufen, übrigens.

Marlon Dino meinte – und er sagte das in vornehm-sachlichem, ja sogar freundlich-jovialen Ton – Zelensky brauche dringend Übung darin, zu verstehen, wie man sich in Deutschland verhalte. Die Schwierigkeiten des künftigen Münchner Ballettchefs Zelensky, der kein Deutsch spricht, sich auf Englisch zu artikulieren, tragen in der international gemischten Ballettwelt allerdings nicht gerade zu einer besseren Kommunikation bei.

Der alerte Dino erläuterte, dass es da so eine typisch russische Art gebe, die Leute auch mal einfach vor den Kopf zu stoßen. Ihm selbst sei das nicht fremd. Er stammt ja aus Albanien und wuchs mit der russischen Schule im Ballettsaal auf. Aber, so Marlon Dino, das erste, was er in Deutschland begann, war: die Sprache zu lernen.

Auch die nonverbale. Vor allem aber die wörtliche, korrekte, unmissverständliche Kommunikation. Man solle, so Dino, sich in Deutschland anpassen – das sei fruchtbarer, als den Superboss zu spielen.

Weltstars als künstlerische Flüchtlinge.

Marlon Dino, aufmerksam, hoch talentiert, einer der begehrtesten Partner auf den Ballettbühnen dieser Welt: Bei der Pressekonferenz blieb er freundlich, verständig, taktvoll. Toll. Foto: Andrea Mogwitz

Wie seine Ehefrau und Tanzpartnerin Lucia Lacarra spricht Marlon Dino viele Sprachen sehr gut – die beiden sind hoch intelligent, fleißig und up to date, was ihren Bildungsstand angeht. Wenn sie, was schon immer mal vorkam, für ein paar Wochen in einem neuen Land arbeiten, lernen sie fast spielerisch die dort vorherrschende Sprache.

Sie sind Multitalente, ähnlich wie Daniel Barenboim im Musikbereich, dessen polyglotte Vorlieben bekannt sind. Auch die Eheleute Lacarra und Dino sprechen sechs oder sieben Sprachen. Weltläufig sind sie.

Und dabei im Herzen Münchner!

Aber München ist diese beiden Prachtstücke des heutigen Balletts jetzt los.

Sie werden nach Dortmund gehen, für eine Produktion namens „Faust II“, nach dem Goethe’schen Theaterstück. Dortmunds Ballettdirektor Xin Peng Wang wird es choreografieren, und er rief Lacarra-Dino deswegen an, sowie er davon erfahren hatte, dass sie München verlassen werden. Die beiden Ballettstars werden beide darin kreieren und tanzen – es ist für beide eine große Befriedigung, eine solche Aufgabe zu erhalten. Xin Peng Wang hat sehr klug gehandelt!

Auch Russell Maliphant, der exotisch-harmonische Choreograf, der international hoch gehandelt wird und der auch schon mit dem Bayerischen Staatsballett Erfolge feierte, meldete sich rasch. Und er wurde erhört: In seiner Tourneetruppe „Russell Maliphant Company“ sind seither zwei Plätze für Lacarra-Dino reserviert.

Lucia Lacarra wird außerdem im kommenden Sommer in Spanien arbeiten und in Madrid ein Ballett namens „La Pastoral de Beethoven“ aufführen; es stammt von Victor Ullate, und – da schließt sich schön ein Kreis – er wiederum war einst der erste Ballettchef von Lucia, als sie ihre Karriere als Profitänzerin begann.

Weltstars als künstlerische Flüchtlinge.

Noch einmal Lucia Lacarra und Marlon Dino, wie sie die Presse zu ihrem Termin im „Lux“ empfingen. Foto: Andrea Mogwitz

Warum auch sollte das Leben von zwei so begabten und etablierten Menschen auf einmal trist werden? Es sind prima Projekte, die die baldigen Freiberufler Lacarra-Dino in Angriff nehmen. Und für ihr Kind, ihre erst 2015 geborene Tochter, wird es großartig sein, die Eltern zu begleiten oder auch auf sie zu warten und sich dann Vieles erzählen zu lassen. Schlechte Laune wird nicht einziehen in diesen idyllischen Künstlerhaushalt, der seine Verortung zudem in München beibehält.

Ach, München. Giltst du nicht als Weltstadt mit Herz?

Aber warum lässt dann dein Opernintendant Klaus Bachler so abartige Vorgänge zu, wie sie jetzt das Bayerische Staatsballett betreffen? 29 Tänzerinnen und Tänzer werden dort auf einen Schlag weggehen. Darunter Solisten, Erste Solisten und eben das Primaballerinenpaar Lacarra-Dino. Das allein wäre schon Grund für einen Intendanten, sich den designierten Ballettchef kritisch zur Brust zu nehmen. Aber nichts geschah.

Es ist auffallend und merkwürdig, wenn sich ein Intendant wie Bachler anscheinend kaum für Ballett interessiert – und sozusagen aus dieser Position des kalten Desinteresses heraus mit dem ebenfalls recht kühl agierenden Russen Igor Zelensky gegen das berühmte, publikumswirksame, superheiße Starpaar koaliert.

Was soll das werden? Ein Programm des Eliminierens von Qualität?

Weltstars als künstlerische Flüchtlinge.

Die Nische im „Lux“ in München, die nun einen legendären Ruf haben könnte – zumindest als Podium einer Pressekonferenz in Ballettangelegenheiten! Foto: Andrea Mogwitz

So verliefen die Verhandlungen von Lacarra-Dino mit Zelensky unter häufigen Verweisen auf den dabei gar nicht anwesenden Bachler. Ein uralter Trick ist das, um Verantwortung abzuschieben. Man kennt ihn in Westeuropa ebenso wie in Moskau.

Es ist aber, und zwar auch überall auf der Welt, ganz besonders ungut, wenn Personen nicht für etwas verantwortlich sein wollen, für das sie es faktisch sind. Sind solche Leute eigentlich geeignet für hohe Chefpositionen an subventionierten Theatern?

Es scheint, dass hier die öffentliche Kontrolle doch sehr versagt hat, in den letzten Jahren.

Jetzt müssen die Anhänger der Ballettkunst das auslöffeln. Es ist nicht nur für Lacarra-Dino ein Trauerspiel, dass sie nicht mehr da sein werden, wenn sich der rotgoldene Vorhang im Nationaltheater für die höchste Kunst auf Spitzenschuhen in Bayern hebt. Es ist auch eine Tragödie für das Publikum, das sich treu und enthusiastisch seine Kenntnisse und Erfahrungen mit dem Ballett in München erwarb.

Da ist es wieder: Dieses Gefühl, vor den Kopf gestoßen zu sein. Es dürfte so ziemlich alle Ballettfans, die Lacarra und Dino verehren – ach, und das sind weltweit nicht eben wenige – derzeit vereinen. Aber Kopf hoch, liebe Leute!

Denn: Lacarra und Dino werden weiter tanzen! Und wir werden ihnen nachreisen.

Vielleicht haben wir ja sogar das Glück, ein Wunder zu erleben. Vielleicht kommt die Münchner Politik zur Besinnung und behebt den Schaden, bevor er irreparabel wird.

Weltstars als künstlerische Flüchtlinge.

Diese beiden werden sich nicht langweilen, aber wir vielleicht! Lucia Lacarra und Marlon Dino am 1. Juni 2016, dem Tag ihrer historischen Pressekonferenz im „Lux“ in München. Foto: Andrea Mogwitz

Statt Zelensky wünscht man sich Lacarra und Dino als neue Ballettdirektoren. Und wenn sie Bettina Wagner-Bergelt, derzeit die Stellvertreterin des Ballettdirektors, als Dritte hinzunehmen wollen, so hätten wir endlich mal ein Leitungsteam im deutschen Ballett. Ein Trio an der Spitze. Statt immer nur Kult um einen Massa. Das wäre fast eine Revolution, auf jeden Fall aber ein erfolgversprechendes Zukunftsmodell. Zumal, wenn alle drei vor Ort so gut eingeführt sind wie diese hier.

München, du hast doch noch Sinn für Neuheiten und Chancen? Dann beweise es!

Und jetzt muss mich jemand kneifen, denn ich träume…
Gisela Sonnenburg

Lacarra-Dino tanzen am 3. Juni 2016 noch einmal in „Die Kameliendame“ von John Neumeier mit dem Bayerischen Staatsballett. Auch in „Illusionen – wie Schwanensee“ sind sie in München prominent besetzt. Also hin!

www.staatsballett.de

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