Tränen der Lust und Tränen der Wut Das Jahrhundertduo Lucia Lacarra und Marlon Dino tanzte noch einmal in John Neumeiers „Die Kameliendame“ mit dem Bayerischen Staatsballett

Das Jahrhundertpaar geht.

Lucia Lacarra und Marlon Dino – das Jahrhundertpaar des Balletts nimmt seinen Abschied vom Bayerischen Staatsballett. Foto: Gisela Sonnenburg

Es war eine hoch emotionale Aufführung, und eine glitzernd-glamouröse noch dazu. Lucia Lacarra und Marlon Dino, die beiden Münchner Weltstars, tanzten noch einmal beim Bayerischen Staatsballett ihre Paraderollen als Marguerite und Armand in „Die Kameliendame“, diesem Spezialballett von John Neumeier, das gemeinsam mit John Crankos „Onegin“ und Kenneth MacMillans „Manon“ die Trias der Neubegründung des bedeutenden modernen Handlungsballetts darstellt. Für viele ist die „Kameliendame“ das wichtigste Ballett überhaupt – und wenn man an diesen Abend, also an Freitag, den 3. Juni 2016, denkt, dann weiß man, warum.

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Das Publikum jubelte frenetisch an diesem 3. Juni 2016 nach der Vorstellung der „Kameliendame“ im Münchner Nationaltheater. Lucia! Marlon! Come back! Foto: Gisela Sonnenburg

Es wurde viel still geweint an diesem Abend. Nicht nur vor Rührung und vor Lust, sondern auch aus Wut und Trauer. Denn der kommende Münchner Ballettdirektor Igor Zelensky verbannt nicht nur die „Kameliendame“ vom Spielplan, sondern bot auch dem berühmt-beliebten Ehepaar Lacarra-Dino keinen akzeptablen Vertrag an, keine übliche Vertragsverlängerung. Nur noch selten sollten die beiden überhaupt beim Bayerischen Staatsballett auftreten. Das ist für ein Paar, das viele Jahre vor Ort sein tänzerisches Zuhause hatte, seinen Alltag und zahlreiche Gelegenheiten, sich seinem Publikum zu präsentieren, nicht zumutbar. Mit den beiden Superstars werden siebenundzwanzig (27!) weitere Tänzerinnen und Tänzer das Ensemble verlassen bzw. verlassen müssen – ein bodenloser Verstoß gegen das soziale und künstlerische Empfinden nicht nur des Münchner Publikums, sondern auch gegen die Gepflogenheiten der aktuellen Ballettwelt.

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Lucia Lacarra und Marlon Dino: Das Paar der „Kameliendame“ kurz nach Vorhangfall, beim ersten Schlussapplaus im Münchner Nationaltheater. Foto: Gisela Sonnenburg

Ich habe mich viel umgehört, ich habe auch viele Anfragen und Post zum Thema erhalten: Ausnahmslos wird sich über Zelenskys Vorgehen empört. Niemand kann nachvollziehen, was er mit seiner radikalen Zerschlagung der renommierten, profilierten Truppe erreichen will.

Die Ballettkennerinnen und Ballettkenner, die ihre Abende im Theater in München lieben, werden um ihren Genuss kämpfen, soviel steht fest.

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Alle waren ergriffen: Die Stars wie das Corps de ballet. Hier ein weiteres Bild vom Schlussapplaus nach der „Kameliendame“ am 3.6.16 in München. Foto: Gisela Sonnenburg

Man muss Außenstehenden vielleicht erklären, dass der bisherige Ballettchef Ivan Liška in nur achtzehn (!) Jahren seiner Amtszeit einerseits sein Münchner Erbe, das er von Konstanze Vernon übernahm, fortführte, andererseits aber auch eine eigene Tradition erschuf, die internationalen Anklang fand und zu Recht als eine der renommiertesten in Europa gilt.

Klassiker, Romantisches, moderne Klassik und Avantgarde mischten sich hier zu einer Münchner Melange, die von bewusster Verlebendigung von Kultur, aber auch von der Vereinigung von Gegensätzen lebt.

Ohne, dass die Programme des Bayerischen Staatsballetts dadurch beliebig würden, waren sie abwechslungsreich und auf die drei Zeitsparten unseres Denkens und Empfindens bezogen: auf die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft.

Das Ensemble war davon geprägt und prägte seinerseits durch sein künstlerisches Wirken diese Struktur.

Was von alledem nun noch übrig bleibt – steht in den Sternen.

Oder auch in der Liste derer, die bleiben dürfen, während die meisten Publikumslieblinge im Sommer aus der Compagnie ausscheiden werden.

Nun wird mit Wolfgang Oberender auch noch der maßgebliche, geschmacksbildende Dramaturg seinen Abschied nehmen – und seine Kollegin Bettina Wagner-Bergelt wird ihn selbstredend nicht ersetzen können.

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Lucia Lacarra und Marlon Dino nach der „Kameliendame“ beim Bayerischen Staatsballett. Foto: Gisela Sonnenburg

Folgende Tänzerinnen und Tänzer wird man – außer Lucia Lacarra und Marlon Dino – in München künftig vermissen:

Bei den Ersten Solisten und Solisten sind es Daria Sukhorukova, Ekaterina Petina, Lucas Slavicky, Cyril Pierre, Zuzana Zahradniková, Katherina Markowskaja, Léonard Engel, Stephanie Hancox, Ilia Sarkisov und Maxim Chashchegorov.

Viele von ihnen tanzten in der letzten „Kameliendame“, die nunmehr auch vom Münchner Spielplan verschwunden ist, noch einmal mit.

Und sie gaben ihr Bestes! Es war, auch für Münchner Verhältnisse, eine besonders akkurat und dennoch sehr gefühlvoll getanzte Vorstellung.

Was auch an dem hervorragend gecoachten und jeden Part mit Leben füllenden Ensemble, dem Corps, lag!

Von diesem werden weggehen (müssen): Magdalena Lonska, Joana de Andrade, Martina Balabanova, Donna-Mae Burrows, Lisa Gareis, Nagisa Hatano, Julia Reid, Alisa Scetinina, Maud-Hélène Treille, Ilenia Vinci, Marcella Zambon, Vittorio Alberton, Zoltan Mano Beke, Luca Giaccio, Ilya Shcherbakov, Olzhas Tarlanov und Shawn Throop (den einige noch als entzückenden Puck in John Neumeiers „Ein Sommernachtstraum“ im Gedächtnis haben).

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Daria Sukhorukova und Maxim Chashchegorov nach ihrer letzten „Kameliendame“, in der sie Manon Lescaut und Des Grieux tanzten. Bravo! Auch sie wird man beide sehr vermissen. Foto: Gisela Sonnenburg

Eine solche Amputation eines Ensembles – von der Primaballerina und ihres Partners über zehn Solisten bis hin zu siebzehn Demi-Solisten und Corps-Tänzern – ist aus den letzten Jahrzehnten nicht bekannt und erinnert an Zustände im 18. Jahrhundert, als Bühnenkünstler oft nahezu keinerlei Rechte oder eigenes Ansehen hatten und wie austauschbare Fleischstücke in der Schlachtertheke behandelt wurden.

Dabei ist mittlerweile wissenschaftlich belegt, dass auch die traditionelle Jugendkunst Ballett ihren Interpreten zumeist viel mehr Können einräumt, wenn sie nicht mehr blutjung sind, sondern über Erfahrung und eine gereifte Persönlichkeit verfügen.

Schult Ballett doch menschliche Talente wie Koordination und Haltung, Linie und Ausdruck. Und nicht nur Schnelligkeit, die in der Tat vor allem bei jungen Leuten zu finden ist.

Aber Vieles lernt ein Bühnentänzer erst im Laufe seiner Berufsjahre, und eben nicht schon im Teenageralter während des Studiums. Und die Tänzerinnen und Tänzer lernen, solange sie tanzen!

Die Damen haben dann zudem „ihre“ Art, Spitzenschuhe zu präparieren und auf ihnen lang anhaltend zu tanzen, optimiert. Sie haben oft erst in höherem Alter eine perfekte Balance.

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All die Solisten, die das Bayerische Staatsballett verlassen (müssen), haben ihre Fans beim Publikum. Hier beim Schlussapplaus mit der bleibenden, noch sehr jungen Kollegin Mai Kono im Goldlila-Kleid. Foto: Gisela Sonnenburg

Und auch die so oft bewunderten Ballettmuskeln der Herren entwickeln sich im Laufe der Jahre und Jahrzehnte umso prächtiger. Ganz junge Tänzer haben davon von Natur aus noch nicht so viele! Und wenn, dann können sie sie oftmals noch nicht angemessen benutzen… jeder Ballettfan kennt das etwas Stoffelige, das dann dabei heraus kommt.

Tänzer über Deißig haben oft eine viel bessere Körperspannung als die ganz jungen; das Bewusstsein, dass sie wissen, was sie tun, mag da eine Rolle spielen, ebenso wie die Sicherheit, die etwas anderes ist als ein gesundes Selbstbewusstsein.

Auch die Ports de bras, die Armarbeit, profitieren von den Jahren des Trainings und der Übung auch bei Vorstellungen.

Es ist also purer Unsinn, die Altersmarge für Tänzerinnen und Tänzer herab setzen zu wollen, statt sie heraufzufahren.

Gerade heute – da der medizinische und ernährungstechnische Fortschritt durchaus da ist – können und sollten Ballettkünstler möglichst so lange tanzen, wie sie es wollen, prinzipiell also mindestens bis Mitte oder auch Ende Dreißig.

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Es war eine absolut faszinierende Vorstellung: Solisten und Ensemble vom Bayerischen Staatsballett mit Marlon Dino in der Mitte nach der „Kameliendame“ in München. Foto: Gisela Sonnenburg

Da nun „Vergreisung“ zu brüllen, ist doch hanebüchen! Wir leben eben in einer Gesellschaft, in der Menschen älter werden können als früher. Da hat man keine Lust auf einen ständigen Menschenverschleiß im Ballett, der nur noch Twens „überleben“ lässt.

Vielleicht sind die bisherigen Alleindiktate durch den Chef oder die Chefin in der Ballettwelt aber auch sowieso wirklich out.

Manche Orchester haben Mitbestimmung bei der Wahl ihrer Chefs.

Vielleicht sollte es auch im Ballett deutlich mehr Mitbestimmung geben!

Und das beträfe vielleicht auch das Publikum!

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Marlon Dino, Lucia Lacarra und Kollegenschaft beim Schlussapplaus nach der „Kameliendame“ am 3.6.16 im Münchner Nationaltheater. Foto: Gisela Sonnenburg

Denn nicht nur die geschaßten Künstlerinnen und Künstler leiden, sondern auch die Zuschauer, die heutzutage keine unbeleckten „Kultur-Absitzer“ mehr sind, sondern die überwiegend aus starkem Interesse und auch mit entsprechenden Kenntnissen kommen. Und die für ihr Eintrittsgeld einen hohen immateriellen Wert erwarten.

Die Zuschauer wollen ganz sicher keinen Zirkus mit augenscheinlich Minderjährigen sehen.

Sondern die Kunst von Menschen, die sichtlich an sich arbeiten.

Nur dann ist Ballett Ballett, nur dann interessiert uns auch ihre Leichtigkeit und scheinbare Mühelosigkeit. Nur dann sind sie als Vorbilder real und fasslich, nur dann lebt die Dialektik von Schwerkraft und ihrer Überwindung.

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Lucia Lacarra mit Pfingstrosen im Arm – und Marlon Dino natürlich an ihrer Seite. Beim Schlussapplaus nach der „Kameliendame“ in München. Foto: Gisela Sonnenburg

Das ist auch das Geheimnis der meisten außerordentlichen Tanzkünstler: dass sie eben nicht mit optimalen Proportionen oder besonders auswärts oder besonders „hochbeinig“ geboren wurden, sondern sich vieles hart erarbeitet haben.

Das gilt für Marcia Haydée, der wahrscheinlich bedeutendsten Primaballerina der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Sie war weder auswärts noch übermäßig wohl geformt. Sie war noch nicht mal schön im landläufigen Sinne! Aber sie konnte tanzen und einen mit ihrem Tanz erfassen und bezaubern wie keine ihrer Generation! Und das lange – noch mit über 50 Jahren tanzte sie die weiblichen Hauptrollen und Liebhaberinnen.

Wie Alessandra Ferri, die nach ihrem Comeback bei Neumeier in Hamburg als „Duse“ im letzten Jahr jetzt, am 23. Juni 2016, in der Met in New York wieder die Julia in „Romeo und Julia“ tanzen will. Mit 53 Jahren!

Gut, das sind Ausnahmen.

Keine Ausnahme ist es, dass diese beiden Ausnahmeballerinen Ferri und Haydée fantastische „Kameliendamen“ abgaben.

Marcia Haydée tanzte sogar die Uraufführung 1977 in Stuttgart – und auch die erweiterte Hamburger Version von 1981, die heute als die endgültige gilt.

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Am Ende sind alle wie berauscht: Musiker und Tänzer und Publikum hatten beim Applaus nach der „Kameliendame“ am 3.6.16 Tränen in den Augen. Foto: Gisela Sonnenburg

An die Hamburger Premiere von 81 fühlte man sich denn auch erinnert, an diesem seltsam glücklichen, seltsam traurigen Glamourabend im Münchner Nationaltheater, als das Jahrhundertduo Lucia Lacarra und Marlon Dino ein mutmaßlich letztes Mal „Die Kameliendame“ tanzte…

Zu Beginn schreitet Elaine Underwood als Dienerin Nanina mit einem Koffer in einen in Auflösung befindlichen Bühnenraum. Hier war wohl mal eines der schönsten Kabinette des Pariser 19. Jahrhunderts, aber jetzt wird abgebaut. Nanina setzt sich auf die bereits abgehängte Chaiselongue – und betrachtet das dort stehende Medaillongemälde.

Es zeigt Marguerite, die „Kameliendame“. Sie starb vor Stückbeginn, es ist ihr Haushalt, der jetzt bald in einer Auktion zu Geld gemacht werden soll – und sie wurde „Kameliendame“ genannt, seit sie der Sohn des berühmten Romanautors Alexandre Dumas, der ebenfalls Alexandre Dumas hieß, in seinem gleichnamigen Roman1848 erfand.

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Lucia Lacarra und Marlon Dino wissen, was sie aneinander haben. Wunderbar! Hier beim Schlussapplaus nach der „Kameliendame“ am 3.6.16. Foto: Gisela Sonnenburg

Sie trug, im Buch wie im Ballett, stets ein Sträußchen aus weißen Kamelien bei sich, an den Tagen ihrer Menstruation waren es rote.

Denn sie war eine Luxuskurtisane – käuflich, ruinös, dekadent – und dennoch war sie von guter Bildung und reinem Herzen.

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Welch Glanz in ihren Augen! Lucia Lacarra, Weltstar und Primaballerina von Terpsichores Gnaden, mit ihrem privaten und Bühnenpartner, ihrem Mann Marlon Dino nach der „Kameliendame“ beim Bayerischen Staatsballett. Foto: Gisela Sonnenburg

Ihre inneren Werte, die die meisten ihrer Liebhaber weniger interessierten, sind für diese ihre Liebesgeschichte von hoher Bedeutung!

Andere sind weniger edelmütig. Eine der Besucherinnen, die das Inventar begutachten, steckt einfach ein Kännchen in ihre Tasche. Es ist Prudence (getanzt von der bezaubernden Katherina Markowskaja), Kupplerin und Gewerbedame und der Marguerite einst in symbiotisch-parasitärer Nutzfreundschaft verbunden.

Sie wird übrigens später mit der gestohlenen Kanne erwischt und muss sie wieder herausrücken. Denn Aufseher gibt es hier auch, sie zählen und nummerieren die zu versteigernden Möbel und Gegenstände und gleichen sie mit ihren Listen ab – und sie haben ein Auge auf die immer hungrigen Besucherinnen wie Prudence.

Noch ist es stumm auf der Bühne. Erst, als sich ein als Passant kostümierter Musiker (Simon Murray) ans Klavier dort setzt und Chopin spielt, erklingt eine romantisch-müde, melancholisch-herzensvolle Melodie. Es ist das gekürzte Largo aus der Sonate h-moll op. 58.

Nanina, die der „Kameliendame“ als Kammerfrau diente und ihr eigenes Zimmer in der Luxuswohnung hatte, verlässt ihr Zuhause für immer. Ihr Hereinkommen mit dem Koffer war kein Ankommen, sondern ein Abschiednehmen.

Die Anwesenden beschauen derweil weiter die Gegenstände und kostbaren Roben, die feil geboten werden.

Ein älterer Herr erscheint, es ist der Vater des Mannes, den die Kameliendame auch ohne Geld geliebt hat.

Auch er schaut sich versonnen das Gemälde mit Marguerites schönem Gesicht an.

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Marlon Dino als Armand – nach der Vorstellung der „Kameliendame“ vom 3.6.16 in München. Toller Kerl! Foto. Gisela Sonnenburg

Dann stürmt ein junger Mann (Marlon Dino als Armand!) herein.

Er überreicht seinem Vater die blauviolette Robe Marguerites.

Armands Erinnerungen, die er seinem Vater nun erzählt, beginnen… und damit das eigentliche Stück.

Der rote Vorhang fällt. Wir sehen ein Theater im Theater.

Armand ist mit einigen munteren Kumpanen unterwegs hier gelandet.

Man wuselt umeinander, nimmt die Stuhlplätze ein, die rechts und links aufgestellt sind.

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Lucia Lacarra allein vor ihrem Publikum – eine gefeierte Weltkünstlerin, für viele die Ballerina des Millenniums! Foto: Gisela Sonnenburg

Als Lucia Lacarra als Kameliendame erscheint, gibt es Szenenapplaus!

Die meisten heute abend sind wegen ihr hier.

Neben ihr sitzt Prudence, die freundliche Diebin.

Die Damen wedeln kokett mit ihren Fächern. Sie sind hier, um sich ansehen zu lassen, um anzulocken, sie sind, als Kurtisanen, sozusagen im Dienst im Theater.

Und auch das Stück, das getanzt wird – denn selbstredend handelt es sich um ein Ballett-im-Ballett – handelt von der käuflichen Liebe.

Es ist „Manon Lescaut“, und die barocke Lebedame Manon – absolut hinreißend getanzt von Daria Sukhorukova – verführt den Studenten Des Grieux, den Maxim Chashchegorov mit mustergültiger Passion und männlich-eleganten Sprüngen zeigt.

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Die Pas de trois zwischen Manon (Daria Sukhorukova), Des Grieux (Maxim Chashchegorov) und Marguerite (Lucia Lacarra) sind wie delikate Gespräche über die eigenen Schicksale und Leidenswege. Foto: Carlos Quezada

Marguerite und Manon kommen sich ein erstes Mal nahe. Später wird Manon in Marguerites Fantasie lebendig, als eigenständige geisterhafte Figur wird sie ein Schutz- und Todesengel der lungenkranken Kameliendame.

Dass Marguerite todkrank ist, beschleunigt den Handlungsverlauf.

Im Roman lässt Dumas sie zu Armand sagen, dass sie sich vorgenommen habe, schneller zu leben als andere, weil sie doch wisse, dass sie nicht mehr genügend Zeit habe.

Da man für Opernkultur (und auch für Ballett) oft erst in der zweiten Lebenshälfte oder wenigstens nach dem ersten Lebensviertel sein Herz entdeckt – was mit der Reifung der Persönlichkeit zu tun hat – können viele hier mit empfinden. Auch ohne todkrank zu sein, gewinnt der Faktor Zeit für jeden mit zunehmendem Alter eine besondere Bedeutung.

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Sie lieben sich – das sieht man. Und sie haben Humor! Lucia Lacarra, hier von hinten, und Marlon Dino beim Applaus nach der „Kameliendame“ von John Neumeier in München. Foto: Gisela Sonnenburg

Als Marlon Dino als Armand von links nach rechts geht, um der Kameliendame Lucia Lacarra zu huldigen und sich vorzustellen, bricht die grässlich-humoristische Realität in die Szene ein: Ein anderer Verehrer zieht ihm einfach den Stuhl weg, auf den er sich setzen will. Er landet also auf dem Hosenboden, und die verehrte Frau, in die er sich sofort verliebt hat, lacht ihn herzlich aus.

Zur Wiedergutmachung dürfen er und sein Freund Gaston der Femme fatale in ihre Wohnung folgen, zu einem nächtlichen Beisammensein in ihrem großen Salon.

Doch das sehen wir nicht. Wir sehen statt dessen das Vorzimmer zu Marguerites Boudoir, einen kleineren Salon mit einer Recamière, die auf einem kostbaren Teppich steht, und einem Standspiegel.

Der Ausstatter der „Kameliendame“, Jürgen Rose – legendär ohnehin im Ballett – schuf hier eines seiner Meisterstücke. Er fertigte ja für viele Häuser eine immer ähnliche, aber in Details verschiedene Ausstattung der „Kameliendame“ an, aber in München gelang ihm eine besonders ästhetisch-sinnfällige Kombination von Farben und Formen.

Das fällt immer wieder auf, wenn man das Stück in München sieht. Das fiel immer wieder auf, wenn man es in München sah.

Wir wissen nicht, ob und wann das wieder der Fall sein wird.

Das Jahrhundertpaar geht.Marguerite alias Lucia Lacarra betrachtet sich im Spiegel, sie zittert, sie hat Angst, Todesangst. Sie bettet sich auf die Recamière, um sich zu beruhigen.

Armand kommt.

Die traurige Situation ist für ihn ein Glück. Er kann sich als Retter und Helfer, als Getreuer und Verliebter beweisen.

Und er tanzt mit ihr, als sei es das letzte Mal, dass er die Gelegenheit dazu hat.

Er fällt vor ihr auf den Boden, er hebt sie, er umgarnt sie, er verwickelt sie in verzwickte Schrittkombinationen.

Als er sie zum ersten Mal waagerecht über sich hält, blüht sie auf.

Glück!

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Sie lieben ihr Publikum: Lucia Lacarra und Marlon Dino nach der „Kameliendame“ im Münchner Nationaltheater. Foto: Gisela Sonnenburg

Dieser „Violette Pas de deux“, benannt nach der Farbe ihres schulterfreien Kleides, zeigt die kokette Adelsgeliebte Marguerite, die sich auf das Liebesangebot eines Bürgerlichen einlässt, der außer seiner Gefühlswelt und seinem hübschen Aussehen keine Güter zu offerieren hat.

Lucia und Marlon tanzen das Einanderkennenlernen mit wohldosierter, dann aber stürmischer Dynamik. Es ist prickelnd, ihnen dabei zuzusehen, wie sie sich in ihren Rollen annähern, um die Pariser Diva und den verliebten Jungmann zusammen kommen zu lassen.

Warum erhört die Kameliendame ihren neuen Verehrer eigentlich? Sie weiß es selbst erst nach diesem Pas de deux.

Lucia Lacarra tanzt Marguerites Moment, in dem sie sich in Armand verliebt, genau so, dass jede und jeder es mit- und nachempfinden kann.

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Lucia und Marlon, Lacarra-Dino also, nach der „Kameliendame“ am 3.6.16 in München. Foto: Gisela Sonnenburg

Dieser Mann kann sie in den siebenten Himmel bringen, sie fühlt es!

Oh!

Zum Dank verspricht sie ihm ein weiteres Treffen. Es soll eine richtige Verbredung werden, eine von Liebenden. Sie nimmt ihre rote Blume vom Dekolleté und reicht sie ihm. Im Roman sagt sie, wenn diese Blume welkt, dann ist es Zeit für ihr erstes Mal.

Bälle, rauschende Bälle! In der „Kameliendame“ folgen sie einander wie Perlen einander auf der Kettenschnur, die Bälle sind hier des Lebens oberflächlich-schöner Scheinsinn. Halbwelt und High Society mischen sich hierin – das Corps de ballet ist gefordert und nimmt diese Forderungen nur zu gerne an!

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Das Corps de ballet vom Bayerischen Staatsballett tanzt wunderschön und akkurat die Ballszenen und Festtänze in der „Kameliendame“ von John Neumeier. Absolut berauschend! Foto: Carlos Quezada

Man weiß nicht, warum diese hervorragende Truppe vom Bayerischen Staatsballett in ihrer harmonischen, aber so vitalen Art zu tanzen, nicht erhalten bleibt.

Man genießt ihre Walzer, ihre Polonaisen, ihre Reigen.

Was für ein Flair!

Dem Blauen Ball folgt der Rote Ball. Es ist ein Maskenball, und Marguerite wird von dem schwer reichen, schwer in sie verliebten Grafen von N. verfolgt. Er hat ein glitzerndes Armband als Geschenk für sie.

Ihre Freundinnen helfen ihr, sich vor ihm zu verstecken.

Sie trifft Armand. Jedes Mal, wenn Lucia Lacarra und Armand Duval sich hier treffen, stieben die Funken.

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Marlon Dino dankt seiner Dame – und Lucia Lacarra kniet vor ihm. Jubel und Standing Ovations für die Stars und das tolle Ensemble vom jetzigen Bayerischen Staatsballett. Foto: Gisela Sonnenburg

Es ist, als seien sie so frisch verliebt, dass sie nachts nicht ohne einander schlafen können (oder sowieso aus Verliebtheit kaum noch Schlaf benötigen).

Es ist Kunst und Liebe, die hier zusammen kommen und die die Interpretation der beiden Hauptrollen durch Lacarra-Dino so authentisch macht.

Dabei wirken sie niemals privat. Aber man muss weinen, weil ihre getanzte Liebe so wunderschön ist!

Im Stück sucht man in weißen Spitzengewändern (die Damen) und in lockerer heller Karo-Tracht (die Herren) auf dem Land Erholung von den rauschenden Ballnächten.

Alle tragen Strohhüte, was die Freizeitkomponente enorm erhöht.

Aber auch die Choreografie ist munter-leicht, lieblich-sommerlich.

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Am Ende des Stücks trägt auch Gaston wieder Schwarz: Adam Zvonar beim Schlussapplaus. Foto: Gisela Sonnenburg

Gaston, vorzüglich von Adam Zvonar getanzt, trägt ein Reiterkostüm. Er hat wohl spezielle Vorlieben, denn seine Reitpeitsche setzt er auch in seinem großen Solo sehr prägnant ein, wenn auch mit Augenzwinkern und von viel Humor gewürzt.

Nur Armand findet nie heraus aus seiner bei Crankos „Onegin“ abgeschauten schwarzen Kluft mit Frack und Weste. Er ist stets gekleidet wie ein Bräutigam, zugleich wie ein vornehmer Außenseiter.

Er ist der personifizierte Tiefsinn, gepaart mit denkbar größter Passion.

Marlon Dino passt für die Rolle, als sei sie für ihn kreiert.

Er erfindet den Armand sogar gewissermaßen neu, indem er ihm Scharfsinn und Umsicht verleiht.

Dieser Armand ist ein Kümmerer, einer, der weiß, was Verantwortung für eine Dame ist.

Einer, der auch ahnt, dass Liebe stärker ist als der Tod.

Somit weicht er ab von den vielen munteren hedonistischen Bubis, die den Armand einfach nur als eine Prinzen-Variante tanzen.

Marlon Dino ist wie Kevin Haigen als junger Mann, wenn er den Armand tanzte. Nicht genauso, aber vergleichbar.

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Ein Triumph! Das Paar Lucia Lacarra und Marlon Dino nach der „Kameliendame“ am 3.6.2016 in München. Foto: Gisela Sonnenburg

Haigen, heute Erster Ballettmeister beim Hamburg Ballett und zudem Künstlerischer Leiter des Bundesjugendballetts, war 1981 der Partner von Marcia Haydée in Hamburg, als das Stück überarbeitet wurde (sie hatte ihn sich übrigens selbst ausgesucht). Er sorgte maßgeblich für die Verfeinerung der drei großen Liebesduette in der „Kameliendame“, er kreierte mit John Neumeier neue Varianten der hochkarätigen Hebungen und Verwicklungen der Liebenden in diesen drei großen Pas de deux, die zum besten der Weltliteratur des Balletts gehören.

So wurden der „Violette Pas de deux“, der „Weiße Pas de deux“ und der „Schwarze Pas de deux“ aus der „Kameliendame“ international gültige Begriffe im Ballett.

Marcia Haydée war dazu die eigenwillig-charmante Diva.

Und die Haydée hat in Lucia Lacarra ihre wahre Nachfolgerin in der Rolle als Marguerite. Keine andere Ballerina – und ich kenne viele shr gute Kameliendamen – kann Lucia hier das Wasser reichen. Sie tanzt die Rolle mit allen Farben der Liebe, mit einer persönlichen Bezugnahme und einer Anmut, die einen unweigerlich anrührt, begeistert, fasziniert…

Welche Grandezza hat La Lucia!

Welche Geschmeidigkeit!

Wieviel Herz bis in die Finger- und Zehenspitzen!

Und wieviel Sexiness!

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Lucia Lacarra beim Schlussapplaus vor ihrem Münchner Publikum am 3.6.16. Foto: Gisela Sonnenburg

Man möchte sie anbeten und umarmen, sie ist eine so warmherzige und dennoch kluge Person – das ist nicht nur Show bei Lucia Lacarra.

Wer sie ein bisschen kennt, weiß, dass sie gebildet und intellektuell ist, in einem Maß, wie es nur wenige Ballerinen sind.

Das Jahrhundertpaar geht.

Marlon Dino mit entschlossenem Blick und Lucia Lacarra mit Blumen beim Schlussapplaus vom 3.6.16. Foto: Gisela Sonnenburg

Lacarra kann zudem hervorragend organisieren und – wie auch Marlon Dino – ebenso hervorragend öffentlich sprechen.

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Charmant, aber nicht dumm: Lucia Lacarra würde zweifelsohne eine hervorragende Ballettdirektorin abgeben. Hier im Portrait nach der Vorstellung am 3.6.16. Foto: Gisela Sonnenburg

Sie würden ohne Zweifel das perfekte Ballettdirektorenduo sein!

Dazu kommt Lucias Ruhm. Sie ist nicht umsonst mit allen Preisen dekoriert worden, die es international an bedeutenden Auszeichnungen für Primaballerinen gibt.

Sie ist die Tänzerin der Millenniumswende!

Und die „Kameliendame“ ist eine ihrer Leibrollen, sie hat sie sich und sich ihr angepasst, sie füllt sie aus wie einen maßgeschneiderten Handschuh.

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Das Paar aus der „Kameliendame“, die wohl weltbeste aktuelle Besetzung, sagt dem Publikum für dieses Stück ade. Foto nach der Vrostellung am 3.6.16 im Münchner Nationaltheater: Gisela Sonnenburg

Ihre Hände zaubern dabei, wenn sie im vermeintlichen Bühnenwind flattern, wenn sie auf den Liebsten zeigen oder ihn berühren – oder wenn sie Dinge beschreiben, die die Kameliendame zu sehen scheint.

Die lockere Gesellschaft, in der sich die Kameliendame bewegt, plant, sich auf dem Land eine erholsame Vergnügungszeit zu gönnen. Frohgemut bricht man dazu auf – und sät schon bestimmte Erwartungen damit.

Einen ersten Höhepunkt erreicht dieses Landleben mit dem brillanten Spitzentanzsolo von Prudence, der Kupplerin, die mit Marguerite befreundet ist.

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Die entzückende Katherina Markowskaja war zum letzten Mal als Prudence in München zu sehen. Hier nach der Vorstellung beim Applaus! Foto: Gisela Sonnenburg

Katherina Markowskaja zeigt köstlich, dass Prudence ein heißes Mädchen ist, das mit seinem Rock und dem Duft darunter spielt, um Gaston zu gefallen.

Die traditionelle Kissenschlacht, die sich anschließt, bringt noch mehr Ausgelassenheit in die Szene.

Dabei ist es auch urkomisch, wenn Gaston, Prudence und Nanina als clownesk-unbeholfene Dienerin einen Pas de trois tanzen.

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Heiter beschwingte Momente gab es auch beim Schlussapplaus nach der „Kameliendame“ am 3.6.16. Ein legendärer Abend im Münchner Nationaltheater. Foto: Gisela Sonnenburg

Doch das Vergnügen auf dem Lande wird jäh unterbrochen.

So jäh wie das Vergnügen mit dem heutigen Bayerischen Staatsballett, wenn man daran denkt, dass es sich praktisch in Auflösung befindet.

Der Herzog (Peter Jolesch kann immer noch viel mehr als nur tanzen) entert die Szene. Er ist der letzte reiche Verehrer, den Marguerite neben Armand duldete. Er ist denn auch kein Liebhaber, er subventioniert Marguerite nicht für Liebesdienste, sondern weil sie seiner verstorbenen Tochter so ähnlich sieht. Auch diese hatte Tuberkulose.

Der Herzog wusste aber nichts von Armand. Bis man ihm in Paris zutrug, dass Marguerite nicht allein dem dörflichen Leben frönt.

Er ist wütend. Er befiehlt, Armand zu gehen.

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Der Herzog (Peter Jolesch) befiehlt Armand (Marlon Dino) zu gehen – aber die Kameliendame (Lucia Lacarra) stellt sich vor ihren Geliebten. Foto: Carlos Quezada

Zögerlich geht Armand, nicht eben ein Held, einen Schritt zur Seite.

Doch dann stellt sich Marguerite vor ihn.

Wie Lucia Lacarra diesen Moment zelebriert, wie sie erst erschrickt, als der Herzog auftaucht, und wie sie dann sichtlich den Entschluss fasst, ihren Geliebten zu behalten und ihren Geldgeber nach hause zu schicken, ist phänomenal.

Sie zuzzelt ihr glitzerndes Collier vom Hals und wirft es dem Herzog vor die Füße. Kühl, gefasst. Scheinbar ohne Aufregung. Aber in ihrem Wurf des Schmucks liegt bereits die Abschiedgeste an ihr glamouröses Leben. Sie weiß, dass sie den Herzog damit provoziert. Der eitle reiche alte Mann ist düpiert. Lacarra hält den Blickkontakt zu Jolesch – eine ungeheure Intensität weiß sie auch solchen Szenen zu verleihen.

Das Jahrhundertpaar geht.

Lucia Lacarra in der Mitte beim Applaus nach der „Kameliendame“ – wer hätte sie nicht gern als Ballettdirektorin in München? Nur Ahnungslose… Foto: Gisela Sonnenburg

Der Herzog, zutiefst gekränkt, geht. Alle gehen, denn sie wollten sich von der Kameliendame aushalten lassen. Ohne Geld kein Spaß.

Armand bleibt – und es beginnt der „Weiße Pas de deux“, in dem er und Marguerite ihre Liebe festschreiben.

Rückwärts gehen sie aufeinander zu, finden sich, umklammern die Hände.

In den späteren Hebungen und erst recht, wenn sie am Boden herumtollen, erreichen beide ein solches Glück, das ahnen lässt, das sie wie füreinander gemacht sind.

Es ist der ultimative Sex, sozusagen.

Der „Weiße Pas de deux“ steht aber auch symbolisch für die kommenden Monate, die das Paar in aller Stille auf dem Lande lebt.

Das Jahrhundertpaar geht.

Lucia Lacarra und Marlon Dino im „Weißen Pas de deux“ – ultimativ verliebt! Foto: Carlos Quezada

Nur Nanina bleibt bei ihnen. Stück für Stück lässt Marguerite ihr Hab und Gut verkaufen, um davon mit Armand einen Sommer der Liebe zu erleben.

Das Vertrauen, das die beiden nun zueinander haben, ist die Basis ihrer Beziehung.

Und genau die wird harsch erschüttert, als sich Armands Vater einmischt.

Er – nicht smart, sondern rollengemäß hart getanzt von Cyril Pierre, dem ersten Ehemann von Lucia Lacarra – besucht die Kameliendame. Er kommt zum Tee, um ihre erfüllte Liebe zu zerstören. Übrigens steht jenes edle Teegeschirr auf dem Tisch, dessen Kännchen Prudence nach Marguerites Ableben stiehlt. Die Kameliendame nahm also ihr Service mit aufs Land.

In einem atemberaubenden, ballettgeschichtlich einzigartigen Pas de deux macht der Alte der Luxusfrau klar, dass allein ihre Existenz in Armands Leben dessen berufliche und private Zukunft beschädige.

Was soll werden, wenn das Geld aufgebraucht ist?

Eine Frage, die im Kapitalismus viele bewegt.

Das Jahrhundertpaar geht.

Gesellschaftliche Konventionen sind ein Druckmittel – im Stück wie in der Realität. Die Stars und das Ensemble beim Applaus nach der „Kameliendame“ in Müchen. Foto: Gisela Sonnenburg

Für Armand würde es heißen, dass ihm dann niemand mehr hilft. Der Vater, statt in die ungewöhnliche Beziehung einzuwilligen und den beiden fern von Paris zu einem neuen Leben zu verhelfen, verlangt die Trennung.

Im Roman wirft er auch das Glück der Schwester von Armand in die Waagschale, die noch unverheiratet ist und durch die nicht legalisierte Beziehung ihres Bruders zur Kameliendame schlechtere Chancen auf dem Heiratsmarkt hat.

Nur von sich und seinem Egoismus, von seinem patriarchalen Geltungstrieb, da sagt der Vater nichts. Aber den sehen wir, im Tanz mit der armen Marguerite, die zuerst ihre Liebe und ihre guten Absichten mit Armand erklärt, um sich dann dem Diktat des Alten zu beugen.

Sie hat verloren. Sie hat Armand an die Machtgier von dessen Vater und an die Konventionen der Gesellschaft verloren.

Lucia Lacarra tanzt diesen Pas de deux, in dem sie etliche Solopassagen hat, mit einer Verve und einer Disziplin, mit einer gespielten Fassungslosigkeit und einer tiefsinniger Einsicht, als sei das Stück ganz neu und als ginge es um die Zukunft eines heutigen Mannes, der durch die falsche Herzensverbindung seinen Studienplatz und seine späteren Jobaussichten verlieren würde.

So glaubhaft! Und dabei auch: So poetisch!

Lucias Kameliendame wird zur Märtyrerin.

Das Jahrhundertpaar geht.

Der Vater von Armand (Cyril Pierre) drängt die Kameliendame (Lucia Lacarra), auf ihre große Liebe zu verzichten. Sie kämpft, aber sie ergibt sich… Foto: Carlos Quezada

Sie verspricht, auf Armand zu verzichten und sogar dafür zu sorgen, dass er sie hassen wird. Sie bemerkt nicht, dass sie sich damit zur Marionette des Systems macht.

Sie wurde vom Vater in die Knie gezwungen, er hätte sie und ihre Liebe sonst bekämpft, sie traute sich den Kampf Zu-zweit-gegen-den-Rest-der-Welt nicht zu.

Die einzige Chance der Liebenden wäre es wohl gewesen, an einem Ort, an dem ihre Vergangenheit keine Rolle spielt, ein neues Leben zu beginnen. Ein dreizehnjähriges Mädchen bat mich in Hamburg mal, das mit ihr zu diskutieren. Wir kamen drauf: Die zwei hätten auswandern müssen!

Natürlich wäre die Unterstützung von Armands Familie dabei angebracht gewesen. Armand hätte studieren können, er und Marguerite hätten heiraten und ein normales bürgerliches Leben führen können.

Wäre da nicht die Tuberkulose und damit auch die Todesahnung Marguerites gewesen… Auch dieser Umstand lässt sie einknicken, macht sie glauben, eine Trennung mit einem vorgeschobenen Grund sei das Beste für Armand.

Der Alte hat Schuld, er agiert wie ein eiskalter Funktionär, er stürzt seinen Sohn in emotionales Unglück und Marguerite in tiefste Armut, in bitterstes Elend bis zum Tod, und alles, was er ihr dafür gibt, ist eine perfide Erlösungsmythologie.

Das Jahrhundertpaar geht.

Beim Schlussapplaus sind alle zusammen auf der Bühne: nach der „Kameliendame“ im Münchner Nationaltheater. Foto: Gisela Sonnenburg

Sie nimmt es nämlich als Sühne an, Armand zu belügen und ihn zu verlassen, um sich mit ihren Verehrern auszusöhnen und in ihr früheres Leben als Luxusdirne zurückzukehren.

Eines Tages ist sie verschwunden, als Armand zu ihr kommen will.

Er findet einen Brief vor, den Nanina ihm gibt.

Er liest ihn und wird halb wahnsinnig vor Schmerz.

Denn Marguerite hat ihn verlassen.

Armand flippt aus. Er dreht sich, er verbiegt sich. Er fällt zu Boden, er steht auf, er hält sein Handgelenk mit der anderen Hand hinter seinem Rücken, als wolle er sich selbst verhaften. Er scharrt in Liegestützposition mit dem Fuß wie ein Pferd, das ausbrechen und durchdrehen will.

Er springt Grand Jetés im Kreis, er tourt in der Luft. Er ist fix und fertig, er steht vor Wut in der Luft!

Es ist eine der besten Gelegenheiten für einen großen Tänzer zu zeigen, dass er nicht nur ein „dressierter Leib“ ist, wie die Kritikerin Dorion Weickmann ihre Doktorarbeit über den Drill des Balletts einst nannte.

Das Jahrhundertpaar geht.

Marlon Dino applaudiert den Musikern. Ein schöner und entscheidungsfroher Mann – und ein Traumtänzer! Foto: Gisela Sonnenburg

Armand hat mit dem Körper zu schauspielern, und er muss hier alle Nuancen zeigen, die die Liebe im ersten Moment des Verlustschmerzes verursacht. Es ist dieser Moment, in dem Männer zu Verbrechern werden können, so stark kratzt der Liebesverlust am Ego, an der eigenen inneren Identität.

Ivan Liška tanzte diese Passage als Armand einst perfekt. Es gibt nicht viele Tänzer, die – wie Liška und auch wie Kevin Haigen – das Lyrische des Balletts mit soviel Zorn und Aggression, mit soviel Wut und Wildheit verbinden können, wie es hier, im „Wutsolo mit dem Brief“, notwendig ist.

Marlon Dino kann es auch! Marlon hat vor allem jene große Tiefe, um deutlich zu machen, dass Armand instinktiv sofort versteht, dass er Marguerite für immer verloren hat. Dass ihre Entscheidung keine Eintagsfliege ist. Dass sie nicht mehr sein ist.

Das Jahrhundertpaar geht.

Marlon Dino beim Schlussapplaus nach der „Kameliendame“ am 3.6.16 in München. Foto: Gisela Sonnenburg

Marlon hat die Trauer und die Wut im Blick und im Körper, und manchmal funkelt darin zudem das Nichtbegreifenkönnen des verletzten Liebenden auf. Wunderbar! Jede und jeder, die oder der je Liebeskummer hatte, kann sich hier ergötzen und wiederfinden…

Er flieht vor der Stätte ihres größten Glücks.

Er kommt nach stürmischem Über-die-Bühne-Laufen – von rechts nach links und zurück und wieder zurück – gerade noch rechtzeitig in Paris an, um zu sehen, dass Marguerite den Grafen von N., der sie eigentlich so anödet, als Liebhaber empfängt. Oder spielt ihm seine Fantasie einen Streich?

Fast ist es egal, denn Marguerite lässt sich wieder von Männern kaufen, jetzt auch von N., und Armand begegnet ihr erst im Herbst wieder.

Und dann versucht er, sie zu demütigen. Er beginnt ein Verhältnis mit einer jüngeren Konkurrentin von ihr, Mai Kono (die in München bleiben darf) tanzt die Rolle der Olympia mit entzückender Katzenhaftigkeit. Da versteht man, warum diese Rolle voller Pas de chat ist!

Doch es kommt noch einmal zur Versöhnung zwischen den Hauptpersonen. Zu einem letzten großen Liebesakt.

Geschwächt von ihrer Krankheit, ihrer heimlichen Trauer um ihre verlorene Liebe, zudem gedemütigt bis aufs Blut von Armand, taucht die Kameliendame ohne Anmeldung bei ihm auf.

Sie trägt Schwarz, einen Pelz und einen Schleier, es ist Winter geworden. Sie trägt ihre Liebe im Herzen. Armand spürt das sogleich.

Wie unwillkürlich entspinnt sich langsam und sich stetig steigernd der „Schwarze Pas de deux“, zur berühmten Ballade g-moll op. 23 von Frédéric Chopin.

Es ist die höchste Lust, diesen von Marlon Dino und Lucia Lacarra getanzt zu sehen!

Das Jahrhundertpaar geht.

Kaum sehen sie sich unter vier Augen, sind sie auch schon wieder ein Paar – die Anziehungs- und Ausziehkraft zwischen Marguerite (Lucia Lacarra) und Armand (Marlon Dino) kulminiert in John Neumeiers „Die Kameliendame“ im „Schwarzen Pas de deux“, in dessen Verlauf er ihr auch das Überkleid vom Leib reißt. Bei Lacarra-Dino ist dieser Pas de deux wie der größte Schatz der Ballettgeschichte! Foto: Carlos Quezada

Ihre Zartheit und seine Stärke, ihre Anmut und seine Würde, sie passen so vorzüglich zusammen!

Und die zwei sind umso inniger miteinander – und auch umso faszinierender anzusehen – als sie körperlich eben nicht den gängigen Besetzungsriten entsprechen. Denn Marlon ist nicht acht bis zehn Zentimeter größer als seine Dame, sondern mehr als einen Kopf größer. Und es sieht entzückend aus, wie er sie dadurch beschützen und beschirmen kann!

Man darf Menschen und Künstler eben nicht nach Formalmaßen beurteilen. Dafür war und ist das Bayerische Staatsballett immer ein sehr gutes Beispiel.

Wenn künftig Listen von Alters-, Größen- und Gewichtsangaben die Zusammensetzung des Ensembles bestimmen sollen, na, dann wird das Publikum aber Frust schieben!

Denn nichts ist langweiliger als wie geklont wirkende, nur scheinbar „perfekte“ Tänzer…

Die Schwerelosigkeit, mit der Lucia Lacarra ihre bildschönen Beine hebt und senkt, ist hingegen höchste Kunst, und sie wäre es auch, wenn sie andere Maße hätte. Zweifelsohne kommen hier Talent und eine süße Figur zusammen.

Das Jahrhundertpaar geht.

Lucia Lacarra als „Kameliendame“ im ersten Akt beim Bayerischen Staatsballett: Leidenschaftlich und auf dem Weg, eine große Liebende zu werden. Foto: Wilfried Hösl

Dass Lacarra zudem eine Frau ist, die stets an sich arbeitet, ist genau das, was wir alle von ihr lernen können!

Und auch Marlon Dino hat sich in den letzten Monaten nochmals toll entwickelt. Er war von Beginn seiner Beziehung an ein wunderbarer Partner für seine Lucia (siehe auch die Texte über ihren „Onegin“ hier im ballett-journal.de).

Auch die russische Primaballerina Svetlana Zakharova sagt, dass Marlon Dino einer der besten Tanzpartner ist, die sie je hatte.

Aber mittlerweile wächst in Marlon nicht nur das Unterstützende, sondern auch das Dominante, das Entschiedene, und das tut sowohl seiner Rollengestaltung als auch seiner Persönlichkeit sehr gut.

Er hatte sich entschieden – für München, für Deutschland. Wir sollten uns freuen, wenn so ein großer Künstler uns beglückt.

Und wir sollten ihm zuhören, denn zum Beispiel seine Auffassung, dass man sich dem Wertekanon unserer Verfassung anpassen sollte, egal, woher man kommt, ist absolut richtig und außerdem die einzige Weisheit, die die Mehrheit der Deutschen wirksam davon abhalten kann, AfD oder ähnliche non-intelligente Parteien zu wählen.

Lucia Lacarra, die wiederum kulturgeschichtlich schön erklären kann und so auch die Soziologie der „Kameliendame“ hervorragend erläutert (in „Die schönsten Liebesgeschichten“ hier im ballett-journal.de nachzulesen), würde als Künstlerische Leiterin oder Direktorin vom Bayerischen Staatsballett einen exzellenten Kodirektor in ihrem Ehemann Marlon Dino haben.

Das Jahrhundertpaar geht.

Lucia Lacarra und Marlon Dino mit Blumen beim Schlussapplaus – noch mehr Blumen, darunter Orchideen, warteten in der Garderobe auf sie. Foto: Gisela Sonnenburg

Und nicht nur ich hoffe, dass die beiden einst zurück kommen werden, ans Bayerische Staatsballett, und zwar als Chefs!

Der Druck, der auf Igor Zelensky nun lastet, ist natürlich groß, wenn auch von ihm selbst verschuldet. Allerdings ist der Druck, der auf den plötzlich künstlerisch heimatlos gewordenen Superstars Lacarra-Dino lastet, noch viel gewaltiger. Das sollte man nicht vergessen…

Und sie verhalten sich fantastisch! Sie haben sich nicht unterbuttern lassen, sondern selbständig eine Pressekonferenz organisiert, um ihre Position klar zu machen. Sonst hätte das Publikum ihnen womöglich nicht mal den gebührenden Abschied gewähren können.

Und trotz der misslichen Situation tanzen Lucia und Marlon diese letzte „Kameliendame“, als sei nichts geschehen – außer einer sehr guten Vorbereitung auf den Abend.

Der „Schwarze Pas de deux“, den sie so oft auch auf Galas tanzten und mit dem sie dann stets der absolute Höhepunkt des Festprogramms waren, reißt denn auch wieder alle mit.

Noch hat das Bayerische Staatsballett einen hervorragenden Ruf, der so leicht auch nicht kaputt zu machen ist. Aber was wird kommen?

In den beiden Pausen des Abends wurde im Publikum viel davon gesprochen.

Da tauchten Ideen auf, bis hin zum Boykott, den das Publikum als Mittel habe, um Druck auszuüben. Ich habe selten so entschlossene Ballettfreunde erlebt!

Spätestens im dritten Akt weiß ich dann auch, wieso.

Das Jahrhundertpaar geht.

Was für ein tolles Team! Lucia Lacarra und Marlon Dino beim Applaus nach der „Kameliendame“. Foto: Gisela Sonnenburg

Bei der ersten Hebung im „Schwarzen Pas de deux“, die sich aus einer kleinteiligen Schrittfolge als Drehhebung der Dame entwickelt, beginnt wieder so viel Liebe auf der Bühne zu flirren, dass man sich wirklich wie mitten in einem Liebesroman fühlt.

Das Vertrauen von Armand und Marguerite zueinander gewinnt hier wieder Oberhand, und Lucia Lacarra und Marlon Dino zeigen das so herzerweichend schön, so rührend und doch so präzise, dass man aufschluchzen möchte.

Kapriziös sind viele Umarmungsfiguren hier, sie haben den Touch von vornehmem Porzellan und zugleich die wilde Leidenschaft echter großer Liebe.

Er stürmt mit ihr im Arm über die Bühne, er hebt sie in den Spagat, er wirft sie in eine Spirale, fängt sie auf, läuft weiter mit ihr…

Es ist eine Art Paradies, so zu lieben, zweifelsohne.

Und wieder wälzen sich die Liebenden – wie schon im „Weißen Pas de deux“ – am Boden, mit der Verzweiflung der langen Entbehrung…

Das Jahrhundertpaar geht.

Lucia Lacarra und Marlon Dino – dankbar ihrem Publikum gegenüber, denn das hat sie erkannt und sie zu dem gemacht, was sie heute sind. Bravo! Foto nach der „Kameliendame“ beim Applaus: Gisela Sonnenburg

Waagerecht liegt sie dann auf seinen Schultern, und er dreht sich mit ihr, Liebe ist fast wie ein fast kindliches Vergnügen…

Dann erklärt Armand, was er empfand, wie der Schmerz ihn traf, als sie ihn verließ. Aber er will sie nach wie vor, und er will ihr verzeihen…

Das Jahrhundertpaar geht.

Marlon Dino hebt Lucia Lacarra im „Schwarzen Pas de deux“ in „Die Kameliendame“ von John Neumeier in schwindelerregende Höhen – als Metaphorik für die Kraft der Liebe. Foto vom Bayerischen Staatsballett: Carlos Quezada

In zahlreichen akrobatisch inspirierten Hebungen und Positionen finden sie zueinander. Bis er ihr die Hand hinlegt und sie ihr Gesicht ganz hineinschmiegt.

Noch eine sehr hohe Hebung, sie schwebt wie eine Märchenfigur über ihm, von ihm an einem senkrecht nach unten gestreckten Bein gehalten – und die Liebenden lassen sich erneut zu Boden gleiten, miteinander, aufeinander. Wow.

Das waren die vielleicht besten acht oder neun Minuten meines Kritikerlebens! Danke, Lucia! Danke, Marlon!

Der Jubel flammt auf, mit Bravos, mit Johlen, man glaubt sich in den besten Zeiten des Balletts in Deutschland… Und dabei ahnt man doch den drohenden Niedergang…

Das Jahrhundertpaar geht.

Lucia Lacarra – in München wird sie wohnen bleiben, vorerst, mit Mann und Kind. Tanzen wird sie in Dortmund und in Madrid und an anderen Orten. Foto: Gisela Sonnenburg

Auch die „Kameliendame“ kann nicht bei Armand bleiben.

Die geisterhaft erscheinende Manon lockt sie und prophezeit ihr Elend und Tod.

Und jetzt hat auch Armand einen Traum aus dieser Geisterwelt, und zwar von Des Grieux. Der tanzt – von Maxim Chashchegorov subtil interpretiert – ein anmutig-aufrüttelndes, exaltiert-expressives Solo für Armand, das diesen in Verwirrung stürzt.

Das Jahrhundertpaar geht.

Maxim Chashchegorov verbeugt sich – ein letztes Mal als Des Grieux nach der „Kameliendame“ beim Bayerischen Staatsballett. Alles Gute, Maxim! Foto: Gisela Sonnenburg

Der nächste Ball naht. Noch einmal zeigt diese Gesellschaft, wofür sie Liebesgeschichten zertrümmert: für Glanz und Gloria, für Halligalli und seichten Tand.

Die Kurtisanen brillieren! Die Männer strengen sich an, sie zu beeindrucken.

Armand schenkt seiner Favoritin Olympia ein Halstuch. Diese aufgebrezelte Frau ist immerhin etwas, womit er angeben kann.

Auch wenn er weiß, dass Liebe etwas Anderes ist.

Aber dass man die Liebe genauso ernst nehmen muss wie seine Karriere und auch am Privatleben genau so arbeiten muss wie im Job – das müssen sicher viele erst noch lernen, nicht nur dieser verwirrte Lebemann Armand.

Das Jahrhundertpaar geht.

Auch das Ensemble insgesamt hat seinen Applaus verdient! Das Bayerische Staatsballett nach der „Kameliendame“ am 3.6.16 im Münchner Nationaltheater. Foto: Gisela Sonnenburg

Als Marguerite auf den Ball kommt, ist Armand angetrunken. Das ist so realistisch inszeniert! Und er schnappt sie sich und dreht sie tänzerisch durch den Wolf. Er ist so eifersüchtig, sie kam ja mit einem anderen Mann!

Dann gibt er ihr einen beleidigenden Brief. Und Marguerite hat sich auch nicht mehr wirklich in der Hand, sie ohrfeigt die spöttelnde Olympia. Die Welt ist das reinste Tollhaus!

All dies zur aufwühlend-festlichen Grande Polonaise Chopins in Es-Dur für Klavier und Orchester op. 22. Zu welchen Klängen auch sonst. Musik und Choreografie harmonieren so stark in der „Kameliendame“, dass man John Neumeier wieder und wieder für dieses Ballett dankbar sein muss.

Das Jahrhundertpaar geht.

Das Jahrhundertpaar noch einmal – beim Schlussapplaus, glücklich, bewusst, überzeugend. Foto: Gisela Sonnenburg

Dann sehen wir Armand im Tagebuch der verstorbenen Marguerite lesen.

Sie schreibt darin – und wir sehen das im Hintergrund auf der Bühne – wie sie in den letzten Tagen ihres Lebens litt.

Sie ruht auf der Recamière, auf der Armand sie einst mit seinen Worten verführte…

Noch einmal schminkt sie sich für einen Theaterbesuch. Und sie sieht nochmal, na was wohl, „Manon Lescaut“.

Wieder wedeln die Damen im Publikum auf der Bühne mit ihren Fächern, wieder sind alle heiter und erwartungsfroh.

Wieder faszinieren Manon und Des Grieux…

Doch wir sehen sie in ihrer letzten Szene, Manon ist abgerissen, Des Grieux enerviert, beide sind erschöpft und dennoch von ihrer Liebe wie befeuert.

Sie stirbt an Erschöpfung, während er sie noch durch die Luft wirbelt – John Neumeier hat nie ein explizites „Manon“-Ballett gemacht, aber als Bestandteil und in Analogie zu der „Kameliendame“ ist dieses Stück bei ihm nicht nur expressiv-dramatisch, sondern auch sozusagen voll gültig geraten. Es ist eine Kurzversion von „Manon“, die wir während der „Kameliendame“ auch erleben.

Der Leidensweg der Marguerite nähert sich derweil dem Ende. Daheim schminkt sie sich ab, zieht ihre Rüschenrobe aus, trägt nur noch das schlichte weiße Miederkleid – und begegnet ein letztes Mal ihren Traumgestalten Manon und Des Grieux.

Der Pas de trois, der Tanz zu dritt, an dessen Ende das Geisterpaar die Sterbende allein lässt, ist so ergreifend, dass man meint, man würde es selbst so träumen.

Als Trias ziehen sie da Hand in Hand durch eine imaginäre Wüste der Verlassenheit, bis Des Grieux mit Manon auf dem Arm die in sich zusammen sinkende Marguerite verlässt.

Noch einmal ertönt die Musik vom Beginn, das Largo aus der Sonate in h-moll.

Marguerite, auf dem Lager ruhend, ruft Nanina zu sich. Die ahnt, dass es ein Abschied ist.

Mit letzter Kraft steht die bereits ganz vergeistigte Kameliendame dann noch einmal auf, nur ihrer Liebe gedenkend, sie breitet die Arme aus – was für eine Bewegung vollführt Lucia Lacarra damit, es ist wie ein letzter Atemzug, mit dem sie alles Glück ihres Lebens noch einmal in sich aufnimmt – und stürzt tot zu Boden.

Das Jahrhundertpaar geht.

Lucia Lacarra und Marlon Dino – legendär! Applaus-Foto vom 3.6.16: Gisela Sonnenburg

Armand hat das Tagebuch fertig gelesen. Vorhang.

Der Jubel in München kannte kaum ein Ende. Es gab Standing Ovations im ganzen Haus, bis auf den letzten Platz.

Lucia Lacarra, die stets für ausverkauftes Haus gesorgt hat, wird jetzt wie auch Marlon Dino noch zwei Mal in „Illusionen – wie Schwanensee“ (ebenfalls ein Neumeier-Ballett) tanzen – und dann in München eine Legende sein. Nein, eine Legende ist sie bereits.

Aber sie und Marlon Dino stehen durch den überstürzten Abgang, den ihnen Igor Zelensky bereitet, umso höher auf dem Sockel der ewig großen Künstler.

Man weinte und man freute sich zugleich über die gelungene Vorstellung. Später sagt mir Marlon Dino, dass auch hinter der Bühne geweint wurde.

Der Dirigent Michael Schmidtsdorff, die Pianisten Simon Murray und Wolfgang Manz und das ganze Ensemble verbeugen sich, immer und immer wieder.

Es waren Tränen der Lust und Tränen der Wut, die an diesem Abend vergossen wurden.

Das Jahrhundertpaar geht.

Marlon Dino und Lucia Lacarra, ein kluges, tolles, kreatives Team – wenn das Publikum und ein Teil der Fachpresse bestimmen dürfte, wären sie die neuen Ballettdirektoren. Foto nach der Vorstellung der“Kameliendame“ in München: Gisela Sonnenburg

Beim Rausgehen sagt mir wieder jemand, man könne ja an einen Publikumsboykott denken, um Zelensky loszuwerden. Einfach nicht mehr hingehen.

Ich habe noch nie gehört, dass ein Publikum seinen kommenden Ballettdirektor schon wieder loswerden will, bevor er überhaupt ankam.

Das spricht wohl für sich.
Gisela Sonnenburg

Weitere Texte zur „Kameliendame“ und zur aktuellen Situation bitte im ballett-journal.de unter „Bayerisches Staatsballett“ einsehen:

www.ballett-journal.de/bayerisches-staatsballett-die-kameliendame/

www.ballett-journal.de/bayerisches-staatsballett-kameliendame-cojocaru/

www.staatsballett.de

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