Eine wilde, schöne Frauenfantasie „Ein Sommernachtstraum“ von John Neumeier wird in München beim Bayerischen Staatsballett neu einstudiert – mit Ksenia Ryzhkova als Titania

Titania im Sommernachtstraum - eine Pracht

In „Ein Sommernachtstraum“ von John Neumeier träumt die junge Hippolyta am Vorabend ihrer Hochzeit von Titania, der Elfenkönigin, die wiederum bald glauben wird, sie habe nur einen Traum gehabt… hier Polina Semionova (als Gaststar) beim Bayerischen Staatsballett: als auf Elfenhand schlummernde Titania. Foto: Charles Tandy

Ganz in Gedanken findet sich eine Träumerin der Weltliteratur hier wieder. Eine, die zudem auch noch eine Traumfängerin ist: weil sie nicht nur eigene Träume hat, sondern auch die Traumwelten anderer in sich vereint und widerspiegelt. Gemeint ist Hippolyta, die sich in William Shakespeares Komödie „Ein Sommernachtstraum“ am Vorabend ihrer Hochzeit in einen von schillernden Realitätsfetzen durchwirkten, brachial-erotischen Traum verliert. Der ist zugleich romantisch und unromantisch, irreal und surreal, brutal und neckisch – und längst nicht alles darin ist nur Träumerei. Am Ende hat gar die Feenwelt das letzte Wort… Komödiantischer Natur und von originellen sexuellen Anspielungen durchzogen, zählt der „Sommernachtstraum“ zu den besten Stücken der Weltliteratur. In der Tanzgeschichte gibt es denn auch Dutzende Versuche, das tolle Stück zu adaptieren. Aber nur ein Werk hat es in den Kanon der großen abendfüllenden Aufführungen geschafft und es zum weltweit begehrten Meisterwerk par excellance gebracht: John Neumeiers 1977 in Hamburg mit Musik von Felix Mendelssohn Bartholdy, György Ligeti und Giuseppe Verdi uraufgeführtes, so modernes wie geniales Werk.

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Oberon (Marlon Dino) und Lucia Lacarra (Titania) im Werbetrailer von 2013 für „Ein Sommernachtstraum“ beim Bayerischen Staatsballett. Wow – was für ein heroisches Elfenherrscherpaar! Videostill aus dem Werbetrailer: Gisela Sonnenburg

Im Lauf der Jahre wurde das vitale, dennoch auch sehr poetische Stück von Neumeier stetig mit leichten Neuerungen versehen. Hier ein Spiralsprung mehr, dort eine Handbewegung weniger – die Charaktere und ihr Fluidum schälten sich so immer deutlicher heraus. Die Dichte, aber auch die Verständlichkeit der choreografischen Sprache in diesem Stück sind so hoch, dass man meint, jedes „Bewegungswort“ im Geiste mit all seinen Bedeutungen nachvollziehen zu können.

Lachtränen, aber auch Tränen vor Rührung sind dabei nicht auszuschließen!

Titania im Sommernachtstraum - eine Pracht

Ein Olivenbusch aus der Feenwelt in „Ein Sommernachtstraum“ von John Neumeier: mit lichtdurchlässigem Blattwerk auf rollbarem Eisenständer… von Jürgen Rose kongenial ersonnen. Foto vom Bayerischen Staatsballett: Wilfried Hösl (Ausschnitt)

Die detailfreudige Ausstattung von Jürgen Rose – mit opulenten Rüschen und Volants für die Fürstenwelt sowie glitzernden Olivenbüschen mit lichtdurchlässigen Blättern für die Feenwelt – ist übrigens weltweit, wo auch immer das Stück einstudiert und aufgeführt wird, mit dabei.

Seit 1993 ist das Stück auch in München daheim.

2013 premierte dort eine verfeinerte Neufassung – und diese wird jetzt, mit neuen Ballerinen und Ballerinos besetzt und neu einstudiert, für zehn Vorführungen in dieser Spielzeit (bis April 2018) gezeigt.

Jede Vorführung, so weit darf man hier in der Prognose mal gehen, wird wohl ein Fest: für jeden Ballettkenner wie auch für jeden Neueinsteiger in die Ballettwelt!

Menschen jeden Alters und aus jedem Erfahrungskreis finden hier ihre Lieblingsszenen…

Dabei geht es um die Irrungen und Wirrungen dreier Paare, eines Elfenstaates und einer Truppe lustig vagabundierender Handwerker. Letztere sorgen mit klamaukigen Proben und einer Aufführung auf der Bühne für so deftiges wie symbolträchtiges Theater-im-Theater.

Kevin Haigen, Neumeiers langjähriger Erster Ballettmeister, der 1977 als 22-Jähriger die putzig-teuflische Elfenfigur namens Puck im „Sommernachtstraum“ kreierte, reiste nun aus Hamburg an, um die Solisten in München mit ihren neuen Parts vertraut zu machen (www.ballett-journal.de/hamburg-ballett-kevin-haigen/ ).

Da er sowohl den Geist des Stücks als auch den Neumeier’schen Stil exzellent kennt und beherrscht, darf man mit einem Gelingen der Einstudierung in Graden positiver Superlative rechnen.

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Kevin Haigen, geboren in Miami, coacht Osiel Gouneo aus Kuba, der jetzt beim Bayerischen Staatsballett den Puck in „Ein Sommernachtstraum“ tanzen wird: eine charmant-irrwitzige Rolle! Foto von der Probe: Wilfried Hösl

Die Besetzungen hatte John Neumeier (www.ballett-journal.de/hamburg-ballett-nussknacker-weihnachtsoratorium/ ) zuvor selbst ausgesucht – es ist das Recht, gewissermaßen auch die Pflicht des Choreografen, das zu tun.

Und seit dem 18. April 2017, dem Dienstag nach Ostern, laufen die Proben auf Hochtouren…

Bis zum Tag der ersten Vorstellung sind das keine vier Wochen, die als Probenzeit für gleich mehrere Besetzungen vorgesehen sind – eine unfasslich kurze Zeit für die Neueinstudierung eines so komplexen, umfangreichen Werks.

Ohne die Arbeiten mit vorhandenen Videos, die überall auf der Welt das Arbeiten im Ballett revolutioniert hat, wäre sie wohl kaum so rasch zu schaffen.

Aber man hat in München noch eine andere große Stütze:

Die Ballettmeisterinnen und Ballettmeister vom Bayerischen Staatsballett arbeiten ebenfalls mit.

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Norbert Graf, heute Ballettmeister beim Bayerischen Staatsballett, tanzte den Demetrius, aber auch den Zettel in „Ein Sommernachtstraum“. Foto: Bayerisches Staatsballett

Zwei von ihnen, Judith Turos und Norbert Graf, tanzten einst die Rollen von Titania und Zettel – und somit den wichtigsten Pas de deux dieses an wundervollen Paartänzen so reichen Balletts.

Zentral für die Verwebung von Traum und Realität im „Sommernachtstraum“ ist die Gestalt der Hippolyta, deren Traum-Ich das der Elfenkönigin Titania ist.

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Judith Turos, Ballettmeisterin beim Bayerischen Staatsballett, tanzte 1993 die Rolle der Hippolyta / Titania… Foto: Bayerisches Staatsballett

Judith Turos, eine der langjährigen Münchner Trainerinnen und Ballettmeisterinnen, war die erste Münchner Hippolyta / Titania (1993), noch unter der Direktion von Konstanze Vernon.

In den Vorstellungen seit 2003 reüssierten Ballerinen wie Lisa Maree Cullum und auch die Superstartänzerin Lucia Lacarra als Hippolyta / Titania – mit einmaliger Geschmeidigkeit und erotischer Behändigkeit durch und durch.

Jetzt, bei der Wiederaufnahme wird die junge, auffallend begabte Russin Ksenia Ryzhkova die Doppelrolle tanzen und gestalten. Wir haben sie hier im Ballett-Journal für diese Rolle bereits empfohlen!

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Ksenia Ryzhkova und Erik Murzagaliyev proben für „Ein Sommernachtstraum“ in München – hier streichelt die am Hochzeitstag erwachende HIppolyta ihren Bräutigam… Foto von der Probe: Wilfried Hösl

Im Spitzenkleid mit Babydoll-Look der Hippolyta wie im hautengen, glitzernden Bodysuit der Elfenkönigin Titania muss sie eine gute Figur machen – und zwei völlig verschiedene Seiten von Weiblichkeit zeigen, die wie die beiden Seiten einer Medaille zusammen passen sollten.

Am Anfang ist Hippolyta ein eingeschüchtertes Mädchen: Sie soll einen ihr nahezu Fremden heiraten, den Fürsten Theseus. Der flirtet heftig mit anderen jungen Mädchen am Hof.

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Ksenia Ryzhkova tanzt erstmals in einem Stück von John Neumeier – als Hippolyta / Titania in „Ein Sommernachtstraum“. Wir hatten sie schon für diese Rolle empfohlen! Foto: Bayerisches Staatsballett

Er verwirrt und demütigt seine Braut dadurch, und Hippolyta verfällt in eine angespannte Grazie.

Einerseits will sie sich einfügen in diese ihr neue Gesellschaft, andererseits ist sie unsicher. „Sie weiß zu diesem Zeitpunkt noch nicht, was sie im Leben will und wie sie es bekommt“, sagte mir Lucia Lacarra dazu vor einigen Jahren in einem Interview.

Lacarra weiter: „Dann gibt es da noch den Zeremonienmeister, der Hippolyta behandelt wie ein Kind!“ Der Zeremonienmeister Philostrat ist die weltliche Gestalt des irrwitzigen Irrwisch Puck. Der will immerzu überall mitmischen, alles kontrollieren, alles manipulieren – und er richtet gern auch mal, ganz arglos, aber schalkhaft, den allergrößten Unfug an.

Die Romantik bei den Hochzeitsvorbereitungen ist also gebrochen.

Erschöpft schläft Hippolyta auf einer nachtblauen Liege ein, nachdem sie einen fremden Liebesbrief fand und las. In diesem Brief verabredet sich ein anderes Pärchen, bestehend aus dem Gärtner Lysander und seiner Geliebten Hermia, zu einem geheimen Treffen im Wald.

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Lucia Lacarra und Marlon Dino als Titania und Oberon beim zänkischen Brillanz-Pas-de-deux in „Ein Sommernachtstraum“ von John Neumeier. Welch Grazie und Grandezza! Foto: Wilfried Hösl

Ein arroganter Bräutigam, der mit anderen Frauen flirtet; ein undurchsichtiger Zeremonienmeister, der sich aufspielt wie ein Supervisor; ein Pärchen ohne Adelstitel, das sich aufrichtig liebt und sich heimlich nachts im Wald trifft…

Hippolytas Fantasie hat damit genug Nahrung für eine ausgeflippte Traumcollage.

Sie sieht sich im nächtlichen Nebel als von Kopf bis Fuß glitzernde Elfenkönigin Titania, die mit ihrem Ehemann Oberon in einer zänkischen Beziehung lebt.

So, wie Theseus sie unmerklich demütigte, erhebt sich Hippolyta als Titania in ihrem Traum über den Mann.

Da ärgert sie Oberon, obwohl er sie kunstvoll hebt und mit allen möglichen akrobatischen Raffinessen zu befriedigen sucht.

Aber sie ist streitlustig, er ist ihr irgendwie nicht genug. Und indem sie sich spreizt, sich von ihm immer höher und majestätischer tragen lässt und ihm schließlich sogar, als er willig am Boden liegt, auf dem Rücken herumhopst – was ihm wehtut, er schreit sichtlich – weckt sie langsam, aber sicher, seinen großen Zorn.

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Ivy Amista tanzte auch bereits die Titania / Hippolyta – hier ist sie mit der roten Zauberblume aus „Ein Sommernachtstraum“ zu sehen. Denn auch eine Titania erwacht am Morgen danach… Foto: Wilfried Hösl

Bei Shakespeare geht es um einen indischen adligen Lustknaben, den Titania in ihrer Obhut hat, seit seine Mutter verstarb. Shakespeares Oberon aber, in unzweideutig pädophiler Absicht, will das prinzliche Kind für sich – und seine Ausschweifungen – haben. Titania verweigert ihm den Jungen, bis sie ihn erst später, in verzaubertem Zustand, ihrem Mann übergibt.

Neumeier verzichtet klugerweise auf diesen nicht wirklich erhebenden Streitanlass. In seinem Ballett gibt es – anders als in dem Kurzballett von George BalanchineA Midsummer Night’s Dream“ – keinen Lustknaben und auch keinen Zoff um Dritte. Obwohl Titania einen Lieblingself hat, von dem sie sich gern so erhaben tragen lässt, wie es eigentlich nur ihrem Gatten ansteht.

Aber brauchen Eheleute überhaupt einen Grund, um in Unfrieden miteinander zu kommen?

Man darf, was auch viel plausibler ist als die Sache mit dem Lustknaben, auf eine direkte erotische Unstimmigkeit zwischen Titania und Oberon tippen. Und die Choreografie – siehe oben – zeigt ja, welcher Art diese ist.

Die Gala des Étoiles 2017 lockt nach Luxemburg

Die Gala des Étoiles lockt nach Luxemburg: am 20. und 21. Mai 2017 findet hier das Spitzentreffen vieler verschiedener Ballettsuperstars statt. Nicht verpassen! Zu den Tickets geht es hier: www.luxembourg-ticket.lu/fr/8/eid,10227/gala-des-%C9toiles-2017.html Foto: Press Photo

Um sie zu zähmen und um ihre sexuellen Gelüste zu befriedigen, läßt Oberon seine niedliche Gattin schließlich vom willfährigen Puck verzaubern.

Oberon lässt sich von einer Elfe eine rote Zauberblume bringen – und er vertraut dem quicken, schnellen Puck die Instruktionen an:

Wenn die Augenlider einer schlafenden Person mit dem Saft dieser Blume bespritzt werden, verliebt sich diese Person beim Aufwachen in jenes Wesen, das sie als erstes erblickt.

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Polina Semionova und Cyril Pierre als energetisch-erotisches, aber auch klamaukig-komisches Paar für eine Liebesnacht – als Titania und Zettel – in „Ein Sommernachtstraum“ von John Neumeier beim Bayerischen Staatsballett. Foto. Charles Tandy

Und so kommt es, dass sich die zierliche, edle Titania plangemäß in einen ebenfalls verzauberten Handwerker, der als Esel erscheint, verknallt.

Die durchaus auch körperliche Liebe, von der zarten Fee mit dem bestialischen Tiermann-Manntier praktiziert, hat satirische Züge – aber es ist eine liebevolle, sogar poetische Satire, keine beißend scharfe, die im Ballett in kunstvolle Artistik umgesetzt ist.

Dennoch täuscht nichts darüber hinweg: Das ist der Kern vom titelspendenden „Sommernachtstraum“: eine wilde, monströse, wolllüstige und völlig übersteigerte Frauenfantasie – von Sex mit einem Tier!

Die feingliedrige Elfenkönigin und der grobschlächtige Esel machen also Liebe – fast könnte das ein derber Porno sein.

Berühmte Ballerinen wie Polina Semionova, aber eben auch Lucia Lacarra tanzten das schon in München – und beim Hamburg Ballett reüssierten unter anderem Alina Cojocaru, Hélène Bouchet und Silvia Azzoni in jüngerer Zeit in dieser nun wirklich nicht ballerinentypischen Partie der Titania.

Allerdings ist hier nichts obszön oder plump oder unansehnlich, nichts ist allzu deutlich oder aufdringlich noch sexistisch.

Im Gegenteil:

Choreographiert ist diese atemberaubend erotische, zugleich aber auch witzige Szene unübersehbar als verspielter, akrobatisch aufmotzter, menschlicher Koitus, so überhöht und stilisiert, wie es nur im Ballett  möglich ist.

Die Gala des Étoiles lockt nach Luxemburg

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Der Esel ist hier nur durch große Eselsohren und gelegentlich animalische Bewegungen, wie sie auch für manche Männer typisch sind, gekennzeichnet.

Titania spielt mit diesem Tiermenschen, sie verlockt und provoziert die geile Bestie, lässt sich drehen und wenden, heben und durch die Luft wirbeln. Sie umklammert den streifenhosigen Eselsmann mit ihren schönen Beinen, während sie auf seinen Schultern sitzt – und nur allzu gern lässt sie sich dabei auch von ihm anfassen.

Es ist die fast unschuldig entfesselte weibliche Lust, die sich hier formuliert, und wer damals in Hamburg war, sieht immer noch die zierlich-süße Zhandra Rodriguez in dieser Rolle, wie sie zeternd und zappelnd auf dem ausdrucksstarken, dünnen, langgliedrigen Max Midinet herumturnt.

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Ivy Amista und Norbert Graf als fatal verknalltes Dreamteam in „Ein Sommernachtstraum“: Titania liebt den Esel namens Zettel… so wild und schön einst beim Bayerischen Staatsballett zu sehen. Foto: Charles Tandy

Ein Sommernachtstraum“ von John Neumeier ist in gewisser Weise ja auch ein Hippie-Traum, geboren aus dem Zeitgeist der Flower Power und der Blumenkinder, die Konventionen und gesellschaftlichen Zwängen kurzerhand den Abschied gaben.

Feenfrau und Eselsmann: Hier sehen sich zwei in die Augen und wollen rückhaltlosen Sex – ohne Etikette, ohne Fremdflirten, ohne Ängste.

Mit ballettöser Ästhetik wälzen sie sich schließlich am Boden, ineinander verklammert und verhakt. Bestialisch wirkt dieser Akt allerdings nicht!

Aber unersättlich ist Titania, sie spielt lasziv mit ihrem Körper und dem ihres eselsohrigen Geliebten, sie liefert sich dem Tiermann aus – und lässt sich emporheben bis in den Himmel der schönsten Orgasmen.

Die Träumerin all dessen ist aber immer noch Hippolyta, die eingeschüchterte junge Braut…

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Lucia Lacarra als Titania genießt hier das erotische Spiel mit Cyril Pierre als Zettel – „Ein Sommernachtstraum“, so sexy und skurril, wie es sein soll, damals beim Bayerischen Staatsballett. Foto: Wilfried Hösl

„Man hat selten Gelegenheit, zwei Seiten eines Charakters so deutlich zu zeigen“, sagte mir Lucia Lacarra über die Doppelexistenz von Hippolyta und Titania: „Titania ist stark und akrobatisch, sie gibt beim Sex bewusst ihre Kontrolle ab, kämpft aber darum, ihren Ehemann zu beherrschen.“

Und Hippolyta? „Sie ist zunächst wie ein im Wasser treibendes Boot. Nach dem befreienden Traum, der ihr Unbewusstes zeigt, trifft sie ihren Bräutigam, und die beiden verlieben sich Knall auf Fall.“

Denn Theseus weckt die Traumfängerin, raffinierterweise mit einer Hebung, als sie am frühen Morgen noch im Halbschlaf ist.

Aus der Traumwelt des sexualisierten Elfenwaldes findet Hippolyta nahezu übergangslos in die männlichen Arme ihre künftigen Gatten – und flugs auch in den ansehnlichen vertikalen Luftspagat. Glück gehabt! (Das Publikum auch!)

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So sieht der Probenplan aus, den das Bayerische Staatsballett Anfang Mai 2017 auf Facebook veröffentlichte… ein Montag voller Feen im Ballettsaal! Faksimile: Gisela Sonnenburg

Shakespeare und Neumeier zeigen hier wie nebenbei die Wirkung dessen, was Sigmund Freud „Traumarbeit“ nennt: Ein Traum kann bei der Verarbeitung von Ängsten helfen, kann Wünsche und Lüste offenbar werden und zutage treten lassen. Hippolytas erotische Gelüste zeigten sich erst in der Übersteigerung der Traumwelt und machen sie dann für die sanften Annäherungen ihres Bräutigams empfänglich.

Ballett bietet durch seine doppelten Möglichkeiten, schauspielerisch und akrobatisch etwas auszudrücken, ein hohes Potenzial, mit solchen Schichten des Unterbewussten zu spielen, sie zu enthüllen.

2013 war John Neumeier selbst in München der maßgebliche Coach, der bei den Proben die Details erklärte.

Lucia Lacarra erinnert sich: „Ich mag es, daß er allem einen Inhalt und Bedeutung gibt: jeder Bewegung, jeder Drehung. Auch wenn der technische Schwierigkeitsgrad oft hoch ist, weiß ich immer, was ich als Bühnenfigur gerade tue.“

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Marlon Dino und Lucia Lacarra erzählen im Werbetrailer vom Bayerischen Staatsballett von ihrer Arbeit am „Sommernachtstraum“ von John Neumeier. Sie ahnten 2013 noch nicht, dass sie 2017 nicht mehr beim Bayerischen Staatsballett tanzen würden. Videostill: Gisela Sonnenburg

Auch in dem Werbetrailer von 2013, den das Bayerische Staatsballett aktuell auf seiner Homepage anbietet, berichten Lacarra und ihr Partner Marlon Dino (damals als Theseus / Oberon zu sehen) von der Inszenierung.

Charmanterweise wurden die beiden im für die Elfenwelt geschminktem Zustand gefilmt, sie bieten also zugleich einen Blick hinter die Kulissen und in die Garderoben.

Auch die dritte Handlungsebene im Stück ist Teil der Theaterwelt:

Die Handwerker, sieben skurrile Gestalten, wollen ihr Salär aufbessern, indem sie sich als Laienschauspieler versuchen. Ihr Anführer, Zettel, ist sogar recht eitel inspiriert und sieht sich als großen Künstler.

Er ist es denn auch, den Oberon in einen Esel und somit in das Lustobjekt Titanias verwandelte.

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Shawn Throop ist hier auf dem Foto als Puck zu sehen – als Elf für besondere Aufgaben in „Ein Sommernachtstraum“ von John Neumeier beim Bayerischen Staatsballett. Foto: Wilfried Hösl

Norbert Graf, der oft bravourös den Zettel in München tanzte (und ebenso wie den Offizier Demetrius), hilft jetzt, wie Judith Turos, die einstige Titania, als Ballettmeister bei den Proben.

Aber letztlich muss jede Generation von Tänzern ihren eigenen Weg durch die heiße Nacht vom „Sommernachtstraum“ finden…
Gisela Sonnenburg

Termine: siehe „Spielplan“

Weitere Texte zum „Sommernachtstraum“:

www.ballett-journal.de/bayerisches-staatsballett-ein-sommernachtstraum-john-neumeier/

www.ballett-journal.de/bayerisches-staatsballett-puck-aus-ein-sommernachtstraum/

www.ballett-journal.de/bayerisches-staatsballett-ein-sommernachtstraum-lejeune-preis/

www.ballett-journal.de/bayerisches-staatsballett-ein-sommernachtstraum-2017-rezension/

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