Von der unromantischen Liebe Dustin Klein zeigte online zwei neue Soli beim letzten Montagskonzert mit dem Bayerischen Staatsballett

Der auch aus dem Fernsehen bekannte August Zirner lesenderweise als Komponist Robert Schumann – beim Online-„Montagskonzert“ der Bayerischen Staatsoper am gestrigen Abend. Videostill: Gisela Sonnenburg

Das Bayerische Staatsballett tanzt wieder. Erstmals seit Wochen steuerte es gestern Abend seinen Beitrag zum wöchentlichen Online-„Montagskonzert“ der Bayerischen Staatsoper aus dem leeren Nationaltheater in München bei. Das Thema war „Die romantische Liebe“ zwischen der jungen Klaviervirtuosin Clara Wieck und ihrem späteren Gatten Robert Schumann, dem Komponisten der „Kinderszenen“ und der „Nachtstücke“. Ein greises Schauspielerpaar – der prominente August Zirner und die weniger bekannte Katalin Zsigmondy – verlas Briefe, die sich Clara und Robert seit dem Teenageralter schrieben. Clara spricht in der Korrespondenz davon, dass ihr 17. Geburtstag bevorsteht. Die Besetzung der Vorleser war von daher denkbar ungeeignet, zumal ihr Vortrag im Tonfall eher einer Moralpredigt glich als verliebtem Gesäusel und Gezwitscher. Und dabei winselt Robert Schumann doch regelrecht vor Jammerei, weil die Geliebte ihm so oft und so lange vorenthalten wird. Friedrich Wieck war nämlich gar nicht glücklich über die frühe Liebesverbindung einer seiner Töchter mit seinem Klavierschüler Schumann. Aber wo die Liebe hinfällt… Zu diesem Thema ein oder zwei Tänze zu kreieren, sollte nun eigentlich nicht allzu schwierig sein, und auch die Musik von Robert Schumann, die Dustin Klein sich für seine jüngste Uraufführung ausgesucht hatte, nämlich die Sonate Nr. 1 für Klavier und Violine e-moll opus 105, enthält reichlich tänzerische Elemente.

Katalin Zsigmondy liest Briefe von der jungen Clara Weck vor – beim Online- „Montagskonzert“ am 18.05.2020 aus der Bayerischen Staatsoper. Videostill: Gisela Sonnenburg

Verena-Maria Fitz an der Geige und Massimiliano Murrani am Piano spielten sie lebhaft und engagiert, nah an der Rampe platziert, während im hinteren Bühnenraum nacheinander die Tänzer in ihren Soli agierten. Die Kameras filmten nicht etwa vom Zuschauerraum aus, sondern zeigten diesen vielmehr statt einer Kulisse am Horizont. Der Blick kam also aus dem tiefen Bühnengrund, auch mal aus der Seitengasse– er sollte wohl vermitteln, wir seien ganz intim und räumlich eng mit den Tanzkünstlern beieinander.

Zunächst tanzt Henry Grey auf. Der gebürtige Neuseeländer besticht normalerweise mit Wandlungsfähigkeit. Hier soll er vor allem lyrisch und leidenschaftlich im Ausdruck sein – aber die etwas lapidare Choreografie von Dustin Klein macht ihm das sichtlich schwer.

Wann immer die Melodie eine gewisse Tonhöhe erreicht, muss der Tänzer springen, etwa in ein Grand jeté. Das wird vorhersehbar und rasch äußerst langweilig.

Die Musik hat melancholische Einflechtungen, aber das hat Klein überhört. Ihm erzählt nur die aufgeregt suchende Sehnsucht nach der Geliebten etwas. Pantomimische Gestik nach Art des galanten Gentleman wirkt hier allerdings recht oberflächlich, zumal, wenn es sich eigentlich um große Verliebtheit handeln soll.

Henry Grey tanzt Schumann ganz in Schwarz  – in der Choreografie von Dustin Klein. Keine echte Erbauung für die Menschheit, zu sehen beim gestrigen Online-„Montagskonzert“ aus dem Nationaltheater in München. Videostill: Gisela Sonnenburg

Da ist das Kostüm – ein schwarzes Jackett über einem ebenfalls schwarzen Hemd zu schwarzer Hose und schwarzen Schuhen – auch nicht ganz passend gewählt. Ist das hier nun ein Gigolo oder ein Diabolo oder ein Romantiker? Robert Schumann gar? Höchstens wohl im Café Keese. Darauf eine Attitüde auf halber Höhe!

Wenn Choreograf Klein dann dazu gar nichts Neues mehr einfällt, muss der Tänzer entweder einen halben oder dreiviertel Kreis laufen wie im Fitnesstraining oder auch eine Linie Chainés drehen. Hach! Und huch!

Die Chainés kulminieren schließlich in regelrechte Anstrengung, der Tänzer kommt sozusagen aus der Puste. Und er darf – wie feinfühlig vom Choreografen– am Ende auch glatt zu Boden gehen: Plop, da liegt der Held teils seitlich, teils auf dem Bauch, hingegossen wie ein Verlierer, der seiner Schmach nicht zu entfliehen vermag. Ooooh, da sollte sich jetzt Mitleid regen, zumal auch die schöne Musik ganz verstummt.

Das zweite Solo gebührt der Damenwelt. Kristina Lind aus Kalifornien (USA) konnte in der Corona-Krise endlich ihren erkrankten Zeh kurieren und strahlt nun eine friedliche, gar selbstzufriedene Gelassenheit aus.

Kristina Lind in der Schlusspose ihres Solos von Dustin Klein zur Musik von Schumann beim gestrigen „Montagskonzert“ aus dem Nationaltheater in München. Videostill: Gisela Sonnenburg

Sie trägt ein schwarzes Spitzenkleid mit großlöchriger Ornamentik, das sich zwischen Ballkleid und Negligée nicht entscheiden kann. Die Choreografie von Dustin Klein gibt dazu eher triviales Gehüpfe vor; die tirilierenden Klänge der Sonate bleiben für ihn offenbar auf ihr Metrum und die Tonhöhe reduziert.

Brav reiht die Ballerina gängige Beinwürfe und Posen – etwa hochgerissene Arabesken– aneinander.

Aber dann: Ah, da kommt ein Walzerschritt,Achtung, gleich geht hier die Luzi ab!

Doch vorbei, vorbei ist der Spaß schon nach einmal Schwung holen, schade.

Wenn die Tänzerin in ihren Spitzenschuhen tänzelt, weiß sie, was sie tut. Sie muss, weil sie im Bayerischen Staatsballett tanzt, im Normalfall diese Waffen ihrer ballettösen Fuß-Schönheit unter ihrem Ballettdirektor Igor Zelensky jeden Tag acht Stunden lang beim Tanzen tragen. Was ein Martyrium ist,  das andere Ballettexperten strikt ablehnen, weil es für den schnellstmöglichen Verschleiß der Gelenke am Fuß sorgt.

Aber die Definitionen von Perfektion sind ja verschieden. Optimaler Verschleiß ist schließlich etwas, das sich nicht jede Tanzcompany zu ihrem erklärten Ziel gemacht hat. Woanders werden die Frauenfüße speziellem Spitzenschuhtraining unterworfen, um gestärkt zu werden.

Ballettmeisterin Yana Zelensky ist zwar nicht mehr ganz so jugendlich wie hier auf dem Pressefoto – aber sie ist noch gut zu erkennen. Ihr Gatte ist Igor, der Ballettdirektor. Foto: Bayerisches Staatsballett

Außerhalb dessen (und außerhalb von München) darf die Besitzerin der Füße – nein, nicht die Münchner Ballettmeisterin durch Heirat namens Yana Zelensky, sondern die Ballerina, die an ihren eigenen Füßen hängt – je nach ihrer Tagesform und nach Art des Arbeitspensums jeweils selbst bestimmen, wann sie beim Training zum Spitzenschuh greift und wann zum so genannten „Schläppchen“, also einem Ballettschuh mit weicher Sohle. Diese Methode hat sich seit Jahrzehnten international an vielen Frauenfüßen bestens bewährt.

Ballettdirektor Igor Zelensky höchstselbst auf dem Pressefoto vom Bayerischen Staatsballett – seine Neuerungen haben Bayern allerdings nicht gerade viel gebracht. Außer Ballerinen mit extrem strapazierten Füßen.

Aber das Ehepaar Zelensky will davon nichts wissen, sondern weiß es eben immer besser. Es sind ja nicht ihre Füße, die durch vielfach erhöhten Stress eben auch relativ früh draufgehen können. Es sind auch nicht ihre Schmerzen, wenn das geschieht. Und wenn der Hallux valgus (das erkrankte untere Gelenk der großen Zehe) nach etlichen Operationen einfach nur noch deformiert ausschaut, so ist auch das nicht das Problem der Zelenskys. Dafür gibt es ja die Ballerinen, die das aushalten sollen, dafür werden sie ja bezahlt, bis sie auf der Bühne nicht mehr so richtig taugen.

Kristina Lind hat – wie offiziell alle Münchner Ballerinen in Zelenskys Ensemble– dafür ganz viel Verständnis und gibt die etwaige Gesundheit ihrer Füße gerne her, damit die Chefs auch ja immerzu sehen können, wie fleißig und verbissen sie ihre Zehenspitzen zu malträtieren weiß.

Danach sieht der Tanz dann auch aus, zumindest, wenn die Choreografie kein Gegengewicht zum Folterfaktor darstellt. Dustin Klein ist es nicht gelungen, davon abzulenken, dass Spitzentanz eine Anstrengung ist. Er führt ihn vor, als sei er eine Virtuosität im Zirkus für Arme, und weil es auch dieses Jahr nicht für einen Tigergereicht hat, muss die Frau da in der Arena eben möglichst viel auf ihren Fußspitzen stehen.

Man fühlt sich darum teils an das legendäre Solo der Prudence aus „Die Kameliendame“ von John Neumeier erinnert, das in einem weißen Spitzenkleid mit weit ausgestelltem Rock zu nackten Schultern getanzt wird. Nur hat das einen dramaturgisch-dramatischen Sinn und einen kühnen, pfiffigen, kessen Ausdruck.

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Dustin Klein hat übrigens für das seit zwei Jahren immer dubioser werdende Bundesjugendballett von John Neumeier gearbeitet und 2019 dessen Produktionspreis eingeheimst. Es ist ja in der Ballettwelt üblich, dass man sich selbst oder seinen Freunden Preise verleiht. Der Erik-Bruhn-Preis in Kanada ist da auch so eine spezielle Sache, allein schon von der Anordnung der Jury und der Teilnehmer her, die faktisch identisch sind.

Von solcher oder auch anderer Frivolität ist in Linds Klein-Solo aber keine Spur zu erkennen. Wie auch?

Die Musik heischt Erwartung, die Ballerina hat fertig. Das ist hier der Unterschied zwischen Akustik und Optik. Nicht wirklich große Kunst ist das, würde ich sagen.

Die Schlusspose des Solos zitiert dann ein anderes Ballett von John Neumeier, und zwar die „Josephs Legende“. Im bedeutenden Solo der Titelfigur klopft diese in Brusthöhe mit der einen Handfläche auf den anderen Handrücken, eine Geste mit keckem Ausdruck.

Kristina Lind hat allerdings im Gegensatz zu Joseph bei dieser Geste keinen König im Blick, den sie damit auffordern kann, ihr zu lauschen und ihr weiter zuzuschauen. Denn ihr Solo ist ja gerade – beendet!

Man spricht in solchen Fällen von schlechten Zitaten. Nicht, weil die Urchoreografie schlecht wäre und auch nicht, weil das Zitat modifiziert– also leicht verändert – wurde. Sondern weil es sinnentleert und nur noch formalistisch vorhanden ist.

Das Ganze war kein Sieg für Dustin Klein. Jedenfalls kein ehrlicher.

Dass man all diese Wahrheiten nicht in der Süddeutschen Zeitung (SZ), der größten seriösen Tageszeitung Bayerns, lesen kann, könnte übrigens daran liegen, dass die SZ der erklärte Medienpartner des Bayerischen Staatsballetts, der Bayerischen Staatsoper, ist. Darum bringt diese Münchner Redaktion auch immer so nette und liebevolle Interviews mit Igor Zelensky, die seine Taten und Anordnungen kräftig loben und bewundern. Geschäftsfreunde lieben einander nun mal an der Isar: Money makes the Bavarian world go around!

Dustin Klein stammt aus der Provinz und hat es weit gebracht: Er darf in München viel choreografieren. Wo bleibt denn da die fähigere Konkurrenz? Foto: Bayerisches Staatsballett

Dustin Klein stammt aus Landsberg am Lech (Kennen Sie nicht? So ein Bildungslech, äh, so eine Bildungslücke!). Er besuchte dort die Ballettschule seiner Frau Mama. Wie bitte? Die kennen Sie auch nicht? Also, dann können Sie mit der Bühnentanzkunst von Groß und Klein nicht viel am Hut haben. Irgendwie schaffte es Klein-Dustin dennoch – zum Abschluss seiner Ausbildung – von Luxemburg aus nach London an die Royal Ballet School.

Und weil es so wenige geistig gebildete Choreografen in seiner Generation gibt, darf Klein neben seiner Tätigkeit als Tänzer unter Igor Zelensky auch kräftig choreografieren. Terpsichore verhüllt darob regelmäßig schamvoll ihr Haupt.

Wenn sich das Bayerische Staatsballett davon erholt hat, hoffen wir derweil auf stete Besserung!
Gisela Sonnenburg

www.staatsballett.de

 

 

 

 

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