Die Mutter als böse Frau „Alice im Wunderland“ von Christopher Wheeldon zeigt beim Bayerischen Staatsballett das  interessante Doppelleben einer Mutter

"Alice im Wunderland" hat eine böse Herzkönigin

Kristina Lind tanzt hier mit Verve die böse Herzkönigin in „Alice im Wunderland“ von Christopher Wheeldon beim Bayerischen Staatsballett. Foto: Charles Tandy

Sie ist böse, aber darin ist sie gut. Die Herzkönigin im Traum von „Alice im Wunderland“ trägt Knallrot, logiert auf einem herzförmigen, überdimensionierten Podest, das fahrbar ist wie ein Mammamobil – und sie lässt erbarmungslos jeden henken, der ihr nicht ganz in den Kram passt. In einem Anti-Rosen-Adagio posiert sie mit Untergebenen, aber wehe, irgendetwas ist nicht so, wie sie es wünscht… der Henker wartet schon, und er selbst ist der ganz besondere Liebling dieser bösen Königin. Choreograf Christopher Wheeldon schwelgt in seinem 2011 uraufgeführten Abendfüller „Alice im Wunderland“ (nach der Literarvorlage von Lewis Carroll) in der tänzerischen Ausformulierung dieser bösartigen Madame. In London beim Royal Ballet tanzte Zenaida Yankowsky diese Partie, in München beim Bayerischen Staatsballett triumphierten schon Séverine Ferrolier, Prisca Zeisel und Kristina Lind darin. Jetzt lässt die Corpstänzerin Elisa Mestres, deren kühl-erotische Ausstrahlung vor allem zum Vamp-Aspekt der Rolle passt, das Henkersbeil tanzen – was ihr und dem Publikum einen Heidenspaß bereitet.

Elisa Mestres stammt aus Paris und wurde in Montpellier ausgebildet – und durch die Heinz-Bosl-Stiftung in München. Ihr „Entdecker“ ist also Ivan Liska, ehemals langjähriger Münchner Ballettdirektor und heute der Chef der Heinz-Bosl-Stiftung.

Mestres begann denn auch 2012 bei Liska als Volontärin und 2013 als Gruppentänzerinim Corps de ballet vom Bayerischen Staatsballett.

"Alice im Wunderland" hat eine böse Herzkönigin

Elisa Mestres tanzt mit der Doppelrolle der Mutter / Herzkönigin zwei anspruchsvolle Parts – mit dem Geschmack kühler Vamp-Erotik. Pressefoto: Bayerisches Staatsballett

Die Doppelrolle der Mutter / Herzkönigin ist ihre beste bisherige Chance, sich als Solistin zu bewähren – und die zierliche, klein gewachsene Ballerina hat diese Aufgabe schon einige Male mit Bravour gemeistert.

Zu Beginn handelt es sich bei dieser Partie um die gar nicht blutrünstige, dafür tagestauglich strenge Mutter von Alice, jenem Mädchen aus dem Titel, das hier unübersehbar zur Frau heranreift. Und sich prompt unstandesgemäß verliebt…

Der gestrengen Frau Mama, die einem vermögenden Haushalt mit etlichen Bediensteten vorsteht, liegt derweil viel an der Etikette. So viel, dass sie im Alptraum ihrer Tochter als abgrundtief böse Herzkönigin wiederkehrt – in einem vertrackten Wunderland, in dem muntere Walzer keineswegs harmlose Gutenachtgeschichten begleiten…

Das Böse in nächtlicher Gestalt hat mal wieder deutlich mehr Facetten als sein grau getarntes Tagwerk, wie es oft in der Literatur und im Theater der Fall ist.

"Alice im Wunderland" hat eine böse Herzkönigin

Die böse Herzkönigin (hier: Séverine Ferrolier) in ihrem „Mammamobil“. Foto vom Bayerischen Staatsballett: Wilfried Hösl

Während die Mutter von Alice eine so genannte Schreitrolle ist, die im Belle-Époque-Mieder (Kostüme und Bühne: Bob Crowley) kaum atmen, geschweige denn tanzen kann, und die gerade noch genügend Kraft hat, um ihrer Tochter perfide Vorschriften zu machen, brilliert die im schrägen Traumland auftrumpfende Herzkönigin mit einer klassisch-modernen, oft akrobatischen Choreografie, die ihr sowohl große körperliche Schönheit als auch rasante Virtuosität, gelegentlich auch grotesk-clowneske Komik zugesteht.

Ihr Gatte, der König, sieht weg und spricht dem Flachmann zu. So hat die fiese Herrscherin genügend Spielraum, um ihre Niedertracht voll zu entfalten.

Ihr Hassobjekt Nummer Eins ist das eigene Kind, ihr Sohn, der Herzbube. Na, wie kann man denn einen so netten jungen Burschen immer nur niedermachen?

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Aber solche Mütter gibt es. Sie sind stark tabuisiert, entsprechen sie doch so gar nicht der Vorstellung von heiler Welt und redlicher Mutterschaft, wie es die gesellschaftlichen Institutionen – von den Kirchen und Religionen über die Politik bishin zur Industrie und Werbewirtschaft – unisono propagieren.

Blutrot gekleidete Schergen mit Hackebeil hat diese Anti-Majestät in Wheeldons Ballett zur Entourage. Und wann immer sie auftaucht und über die Bühne wirbelt, jagt sie Alice einen Heidenschrecken ein.

Der Henker, ein finsterer Gesell wie aus einem Folterkeller, macht ihr mit offenbar frisch benutztem Beil Hoffnung auf weitere Hinrichtungen. Ein Untertan nach dem anderen muss dann im Tanz mit ihr zusehen, dieser rachsüchtigen Frau zu entkommen.

Sie ist ja so geltungssüchtig!

Das ist Anlass zu allerhand Spitzentanz – und die Schuhe der Königin sind ebenso blutrot wie das Schiff von Lord Nelson bei der Schlacht von Trafalgar im Innenraum rot angestrichen war (damit das Blut der Verletzten nicht so auffällt).

Das verleiht ihrem virtuosen Spagat als Ausdruck ihres gesellschaftlichen Angebens vor dem versammelten Hof eine besondere Note.

Im Pas de deux mit der Macht entfaltet sie ihre ganze diabolische Energie, und dass der Herzbube am Leben bleibt, verdankt sich ausschließlich der erfrischenden Liebe von Alice.

Die wiederum hat ja ein erhöhtes Interesse an diesem süßen Herzbuben, der im nüchternen Alltag Jack heißt und auch dort längst schon ihr Liebster wurde.

Dmitrii Vyskubenko tanzt diese Partien mit dem Flair des romantischen Liebhabers. Das geht glatt durch. Und umso mehr erweckt er Mitleid, weil seine eigene Mutter ihm aus blindem Hass nach dem Leben trachtet.

Aber was soll’s, im Märchenland sind er und sein geliebtes Mädchen eh ein Paar, der Sanfte  und die wilde Alice – also die im Schlichten wie im Glamourösen nahezu perfekt auftanzende Laurretta Summerscales (derzeit die künstlerische „Allzweckwaffe“ des Bayerischen Staatsballetts) – bilden ein zuckersüßes Paar. Brillant in dieser knalligen Umgebung der Kulissen!

Javier Amo als Erzähler Carroll, der nachts als weißes Kaninchen umherhoppelt, hat denn auch die Möglichkeiten des allwissenden Dichters und besorgt schließlich, nach allerlei absurden Klamauk-Abenteuern, ein wohlig sich anfühlendes Happy End.

"Alice im Wunderland" hat eine böse Herzkönigin

Das Liebespaar lässt sich nicht auseinander bringen: Hier auf dem Foto tanzen Ksenia Ryzhkova und Jonah Cook, beide ehemals beim Bayerischen Staatsballett, in „Alice im Wunderland“ von Christopher Wheeldon. Foto: Wilfried Hösl

Myron Romanul dirigiert dazu die nicht zu schwere Musik von Joby Talbot mit dem Bayerischen Staatsorchester ganz famos – da klingelt und bimmelt und summt und brummt es noch lange in einem nach.

Aber auch das sonst sehr selten zu findende negative Frauenbild einer bösartigen Herrscherin und Mutter brennt sich ein – und macht noch lange nachdenklich…
Franka Maria Selz / Gisela Sonnenburg

www.staatsballett.de

 

 

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