Der Rose Duft – ein Duft der absoluten Liebe Das Bayerische Staatsballett tanzt John Crankos „Romeo und Julia“: mit Polina Semionova und Friedemann Vogel als Stargästen

Romeo mit Polina Semionova

„Romeo und Julia“ in der Starbesetzung mit Polina Semionova und Friedemann Vogel, hier beim Staatsballett Berlin: ein Kuss, ein Liebespaar, ein Dreamteam. Foto: Bettina Stöß

Wenn es ein zeitlos jung wirkendes Traumpaar im klassischen Ballett unserer Tage gibt, dann sind es Polina Semionova und Friedemann Vogel: als Titelhelden in John Crankos „Romeo und Julia“. Seit Jahren tanzen sie zusammen diese Partien, an verschiedenen Theatern der Welt mit verschiedenen Ensembles, und wer sie zum Beispiel 2012 mit dem Staatsballett Berlin gesehen hat, kann – wiewohl es viele andere schlüssige, spannende und auch brillante Besetzungen gibt – den selbstverständlichen Glamour dieses Bühnenpaares nicht vergessen.

Polina, am Bolschoi zur Tänzerin erzogen und zuvor vom noch unerbittlicheren Drill des Eiskunstlaufs zur Prinzessinwerdung geschult, hat eine Menge von diesem Flair der unmittelbaren Liebesbereitschaft zu zeigen, und auf genau diese Stimmung kommt es bei der Julia an. Polinas Julia ist unprätentiös, Julia ist hier ein sehr einfaches Mädchen, eines, das umso heftiger und schneller liebt, desto mehr sie auf anderes zu verzichten bereit ist. Sie wirkt im Tanzen oft toll spontan, eben impulsiv – und ist noch dazu in einem Höchstmaß passioniert und hingebungsvoll. Sogar der Tunnelblick der Verliebten kommt einem bei Polina als ein Geschenk der Natur vor. Da ist kein arroganter Narzissmus, der stören könnte, keine selbstbezogene Eitelkeit oder gar artifiziell aufgebrezelte Selbstverliebtheit – da ist alles eine Einheit im Frauseinwollen und im Liebeswillen. Einfach schön!

Polina Semionova als Julia

Eine starke Stilisierung ist typisch für diesen „Romeo“: Friedemann Vogel und Polina Semionova in Crankos Choreografie beim Staatsballett Berlin. Foto: Bettina Stöß

So viel mädchenhafte Power braucht aber unbedingt ein passendes Gegenstück, das die Gefühle spiegelt und gebührend funkeln lässt – und nichts absorbiert oder verpuffen lässt. Friedemann Vogel, der in Stuttgart früh zum Supersolisten gereifte Jungstar, kann, als scheinbar geborener Sunnyboy, Polina Semionova als Romeo das Wasser reichen – zusammen mit seiner schönen Männerhand: für einige der bedeutendsten Paartänze, die die Ballettkunst aufzubieten hat.

Polina Semionova, Friedemann Vogel

Bilderbuchschön. Eine ganz typische Cranko-Pose aus „Romeo und Julia“: Mann und Frau brauchen einander, um Liebe und Schönheit darzustellen. Polina Semioova am Arm von Friedemann Vogel, fotografiert beim Staatsballett Berlin von Bettina Stöß.

Friedemann ist früher – vor seinem „Onegin“ – kein Könner der komplizierten Charaktere gewesen. Sondern ist vom Naturell her ein stürmisch-geradliniger Liebhaber: Ihm nimmt man vor allem das Gefühl des Moments ab, nicht die Spekulation, die ohnehin nicht zum Romeo passen würde. Er und Polina scheinen insofern aus einem Holz geschnitzt, zumindest für dieses Stück mit diesem spezifischen choreografischen Text. Um die übergroße Freude an Zweisamkeit und die überschäumende Sehnsucht nacheinander, von der Shakespeares Parabel lebt, zu illustrieren, ist ein solches Höchstmaß an Harmonie zwischen den Hauptprotagonisten die beste Voraussetzung.

Julia mit ihrem Romeo

Harmonie im Körper und im Geist: Polina Semionova und Friedemann Vogel als „Romeo und Julia“ beim Staatsballett Berlin. Foto: Bettina Stöß

In München tanzt das Dreamteam in zwei Vorstellungen im Januar diesen „Best-of-Romeo“; danach haben die Stars des Bayerischen Staatsballetts die Möglichkeit, ihre ebenfalls mehr als nur sehenswerten Interpretationen zu zeigen. Das ist das Schöne an intensiven Choreos wie denen von Cranko: Viele gute Tänzer können hierin ihre ureigenen Facetten zum Schillern bringen! Und das ist immer spannend zu sehen, auch wenn es nicht die eine „Supersuperbesetzung“ ist. Katherina Markowskaja und Ivy Amista treten somit zusammen mit Lucács Slavicky beziehungsweise mit Marlon Dino in die Fußstapfen von Polina Semionova und Friedemann Vogel, welche sich mit dem Stück ja ebenfalls – das sollte man nicht vergessen – in bedeutenden Fußstapfen befinden, und zwar denen von Marcia Haydée und Richard Cragun, welche 1962 die Uraufführung tanzten.

Friedemann Vogel mit Polina Semionova auf den Schultern

Neckisch wie ein Spiel, aber ernst wie der Tod: Die Liebe in „Romeo und Julia“ mit Polina Semionova und Friedemann Vogel, hier beim Staatsballett Berlin. Foto: Bettina Stöß

Absolute Liebe – gibt es die überhaupt? Das diesbezüglich gefühlte „Urdrama“ unserer Kultur ist ja ausgerechnet dem Empfinden von Teenagern gewidmet: „Romeo und Julia“, um 1595 als Theaterspiel von William Shakespeare uraufgeführt, hat tatsächlich nichts mit sozial erlernter Kompetenz, mit partnerschaftlichem Einfühlungsvermögen oder sonstiger psychologischer Fertigkeit zu tun. Raffinierte Erotikideale, etwa aus dem Barock, sind dem „Liebespaar aller Liebespaare“ genauso fern wie postmoderne Liebesstrategien. Dafür ist die „Romeo“-Liebe die sinnfälligste, auch die revolutionärste.

Es geht ums einfache Sich-Verknallen ohne Schutzschirm, um Verliebtheit als mehr oder weniger unreflektierte Lebensphilosophie, um eine absolut nicht realistische, dafür gegenseitige Inbesitznahme zweier Seelen. Brisanz erhält diese in sich perfekte Liebe dadurch, dass die Liebenden zwei verfeindeten Familien angehören – an dieser Feindschaft sterben die jungen Liebhaber dann auch. Der Begriff „tragische Liebe“ ist damit in der Neuzeit – nach „Tristan und Isolde“ im Mittelalter und „Orpheus und Eurydike“ in der Antike – drastisch durchdekliniert: eine Liebe, die von der Gesellschaft aus willkürlichen Gründen verhindert wird, hat keine Überlebenschance.

Das Besondere ihrer emotionalen Beziehung von Anfang an ist, nüchtern betrachtet, jedoch etwas ganz anderes: Julia liebt Romeo genau so, wie er sie liebt. Bei beiden schlägt das Pendel der Hormone maximal aus. Während in der Realität und oft auch in der Literatur einer der Partner mehr liebt, sind bei Romeo und Julia alle Schleusen gleich weit offen. Ihre Umwelt blenden diese beiden Liebhaber zu Gunsten ihrer Gefühle aus, ihr gesamter Lebenswille fokussiert sich nach nur wenigen Augenblicken  auf das jeweilige gegengeschlechtliche begehrte Objekt. In ihrer Jugend und Arglosigkeit fragen sie indes nicht nach den Hindernissen, die ihrer Verbindung entgegen stehen. Jeder kennt das: Wer immer sich an seine erste große Liebe erinnert, wird seine Gefühle sicher auch mit dem des Shakespeare’schen Paares aus Verona identifizieren können. 

Rose

Eine Rose ist eine Rose ist eine Rose… und duftet… und duftet… und duftet… als Sinnbild für Liebe. Foto: Gisela Sonnenburg

Die innere Natur des Menschen wird dabei zu einem einzigen Liebespool und überlagert die Außenwelt. Alle Sinne sind da mit eingenommen. „Oh Rose, wie sie auch hieße – ihr Duft wäre uns lieblich!“ Diese frei übersetzte Shakespeare-Zeile meint im Grunde nicht nur eine Rose. Sondern die Liebe selbst. Und ist es nicht so? Hat Liebe nicht so viel sinnenhafte Kraft, dass man glauben könnte, sie sei ein Geruch, ein Parfum, etwas, das in uns eindringt, ohne, dass wir es bemerken, und das uns steuert, als sei es ein Pheromon oder ein Lockstoff?

Die beiden Liebenden „Romeo und Julia“ werden jedenfalls überwältigt von ihren eigenen Gefühlen, was man ihnen gern mitleidvoll verzeiht, denn sie sind nicht nur sympathisch, sondern auch lebensunerfahren. Nur ihr Instinkt führt sie zueinander – das Vertrauen, das sie ad hoc füreinander aufbringen, muss aus einer jeweils unbefriedigenden Situation der Liebesleute resultieren. Da ist Julia, die von einer Zwangsverheiratung bedroht ist. Und da ist Romeo, der ein Abenteurer und Romantiker im Sinne von August Wilhelm Schlegel ist. Am liebsten würde er alles mit allem verbinden, sein Leben mit der ganzen Welt, die ihn beständig juckt und reizt wie eine ständige Provokation.

Insofern ist „Romeo und Julia“ nicht nur das Liebesdrama, sondern auch das (geschlechtsspezifische) Jugenddrama der frühen Neuzeit schlechthin. John Cranko wählte es mit sicherem Geschmack als Thema für sich aus – und wurde, ein Jahr nach Amtsantritt als Ballettdirektor in Stuttgart, damit schlagartig weltberühmt. Mit ihm seine Truppe in Stuttgart!

Die Musik von Sergej Prokofiew war aber schon 1938 uraufgeführten worden, und zwar als Ballett in Brünn. Bekannt wurde das Werk aber erst, als Galina Ulanowa 1940 am Kirov-Theater in Leningrad die Julia tanzte, was sie im übrigen widerstrebend tat, denn sie mochte die modern-dramatisch aufwallende Musik von Prokofiew nicht. Es gibt sogar Augenzeugen, die sagen, man habe damals zu anderer Musik geprobt. Das Zählen der wechselnden Taktmaße und das Einhören in die nicht immer linear tonalen Melodien fiel den damaligen Zeitgenossen schwer, also auch den Tänzern. Man war ja eher am „Humtata“-Musik à la Adolphe Adam oder an die Walzer von Tschaikowsky gewöhnt. Als Rache am Komponisten habe Ulanowa ihn darum bei der Premierenfeier zum Tanzen aufgefordert, sei ihm dann aber stetig auf die Zehen getreten, beschrieb Prokofiew selbst die Lage. Nichtsdestotrotz wurde das Stück einer der größten Erfolge der Ulanowa. Weshalb ihre Kritik auch ziemlich bald verstummte; als Künstlerin wollte sie nicht ihr eigenes Erfolgsvehikel klein reden.

Crankos Romeo

„Romeo und Julia“ von John Cranko beim Bayerischen Staatsballett: die schwungvolle Ivy Amista mit dem galanten Tigran Mikayelyan. Foto: Charles Tandy

Zu Cranko gibt es in diesem Kontext noch mitzuteilen, dass es 1962  bereits sein zweiter Versuch mit dem „Romeo“ war: vier Jahre vorher hatte er sich schon mal an dem Stück abgearbeitet, und zwar in Verona. Ein kaum beachtetes Werk – und nur die Stuttgarter Version, die seit Jahrzehnten weltweit immer wieder gern getanzt wird, gilt als die berühmte Cranko-Inszenierung.

Tatsächlich nehmen sämtliche danach entstandenen Romeo-und-Julia-Ballette zu Prokofiews Musik, ob vor oder hinter dem Eisernen Vorhang, direkt oder indirekt auf Crankos Werk Bezug. Prägend für das Stück ist sein verkürztes Ende: Cranko ließ den versöhnenden Epilog Shakespeares, in dem die verfeindeten Clans am Grab ihrer Kinder einsichtig werden, entfallen – die ballettöse Lovestory endet seither in der Gruft, mit dem ausführlichen Todestanz Julias beim schon toten Romeo: traurig und düster und zu Tränen rührend ist diese Szene – und ohne jede Hoffnung. Nur Juri Grigorowitsch übernahm, am Bolschoi in Moskau, diese Variante des Dramas nicht, sondern inszenierte ein politisch-kosmopolitisch wirkendes Versöhnungsende am wie Kinderleichen aufgebahrten toten Paar.

München hat zu Crankos „Romeo“ eine einmalige, ungebrochene Beziehung: Seit 1968 steht Crankos Original auf dem Ballett-Spielplan des Münchner Nationaltheaters. Das muss man erst mal schaffen, eine solche Kontinuität und Treue zu einem Stück! Die Münchner beweisen damit indes einen guten Geschmack, und tatsächlich zeitigt Crankos Choreo viele detailfreudige Szenen, die schon allein durch die regelmäßigen Um- und Neubesetzungen jedes Mal erneut zum Ereignis werden.

WELTWEIT GELIEBTE PAS DE DEUX

Da sind vor allem die Pas de deux! In hochgreifenden Hebungen beweisen Crankos Romeo und Julia dem Publikum ihre Zuneigung, himmelhochjauchzend und zu Tode betrübt. Es ist eine Liebe wie aus dem Sturm und Drang, allerdings findet sich die Ästhetik Crankos immer vorrangig: Alles ist seinem starken Formwillen unterworfen. Hier geht es nicht in erster Linie um Lebendigkeit oder um Originalität, sondern um die Überhöhung des Liebesgefühls zum einzig lebenswerten Sinn. Der Stil ist sozusagen eher gotisch, nicht barock. Das Lebensgefühl der Renaissance wartet vor allem in den Massenszenen auf, dazu später.

Besonders ergreifend und als Kernszene des Balletts gedacht ist: die Balkonszene, also das nächtliche heimliche Treffen der beiden frisch Verliebten. Da beginnt Romeo mit einer hoch zu springenden Selbstdarstellung, um seiner Julia zu imponieren. Sie hat sich auf dem Platz vor ihrem Haus eine Nische gesucht und schaut ihrem Geliebten zu. Immer wieder kommt er zwischen der Verrichtung verschiedener Sprungfiguren zu ihr und legt seinen Kopf auf ihre ihm damenhaft entgegen gestreckten Hände. Zärtlichkeit, ein Buhlen um weitere Zärtlichkeit kennzeichnen hier die Verliebtheit.

Romeo hält Julia

Beim Bayerischen Staatsballett tanzten auch die Stars Lucia Lacarra und Marlon Dino das Paar „Romeo und Julia“. Welche Liebe, welcher Tanz! Foto: Charles Tandy

Doch dann zeigt Romeo immer mehr Gefühl statt nur Zartheit und Höflichkeit, er steigert das Tempo und das Temperament, er chassiert über die Bühne, pirouettiert, findet Ruhe nur in kurzen Pliés und einem Ausholen mit den Armen. Als er galant auf den Knien und bald ganz auf dem Boden landet, eilt Julia begeistert zu ihm, um ihm aufzuhelfen. Und er beteuert sofort weiter seine Gefühlsstürme für sie – bis auch sie sich vom Bann der Liebe wie von der Musik erfassen lässt und in seine Arme tanzt. Sofort hebt er sie aus der Arabeske empor, ohne Umschweife, in eine unkonventionelle Hebung, ihre Beine reichen dabei ganz weit nach oben. Julia steht dadurch Kopf, natürlich, das macht Sinn, bei dieser Liebe!

Hebefiguren wie die „Fische“ aus „Dornröschen“ ergänzen das Bild: Hier ist ein Herzensprinz mit seiner Herzensprinzessin munter zugange! Welche Innigkeit dabei im Spiel ist, zeigt eine typische Cranko-Pose: Romeo legt den Kopf auf Julias Brust – im Profil stehend, bilden die zwei ein Sinnbild des gegenseitigen Vertrauens. Und wieder und wieder stürmt sie in seine Arme, wieder und wieder hebt er sie kopfüber in die Höhe.

Friedemann Vogel in Berlin

Die große Vertrauensgeste in Crankos „Romeo und Julia“ beim Staatsballett Berlin: Romeo (Friedemann Vogel) hängt Julia (Polina Semionova) am Busen… Foto: Bettina Stöß

Bis sie erschöpft auf der Erde landen, sie etwas schamhaft lachend, er abenteuerlustig weiter sie bedrängend. Da passt, dass er im Originalkostüm ein oberhalb des Bauchnabels geknotetes weißes Hemd trägt – auch äußerlich ein echter Latin Lover. Und der Pas de deux geht in die nächste Runde: Dieses Mal beherrschen Seitwärtsbewegungen die Liebenden, eng umschlungen tanzen sie, als wollten sie dem „hohen“ Gefühl auch eine die Sinnlichkeit festigende Erdung verpassen. Mit einem Kuss verabschiedet sich Romeo dann, nachdem er Julia wieder auf den Balkon verhalf – er selbst springt (nach dem im „Hangeln“ erhaschten Kuss) von der Balustrade ab. Mit wehendem roten Umhang verlässt er die Szene – klassischer geht es als romantischer Ballettheld nicht. Die Musik endet, Julia schmachtet allein noch dem Mondlicht entgegen.

Eine Pose aus dieser Balkonszene brennt sich jedoch so ins Gedächtnis des willigen Zuschauers ein, dass sie wie eine Essenz dieser Liebe wirkt, auch im Nachhinein, als die Musik verhallt ist und kurz pausiert. Denn wenn dieser Romeo – im Laufe dieses Pas de deux – seine Julia flach legt, so hat das höchste ästhetische Finesse: Im Profil liegt sie, auf den Spitzenschuhen stehend, quer in seinem Arm, ihr Körper bildet dabei einen gleichmäßigen Bogen, den die über ihrem Kopf ausgestreckten Arme vollenden. Es ist schon so, dass er ihr hier zu einer Art Makellosigkeit verhilft, zu einer perfektionierten Linie zu einem Gefühlsrausch offenbar auch.

Ganz kurz nur liegt Julia so da, dann wirft Romeo sie wieder hoch, in die Senkrechte, und über ihre Spitzenschuhspitzen rollt sie sanft an den Beinen ihres Liebhabers abwärts und kommt zu seinen Füßen zum Sitzen. Eine wirklich niedliche Verführungsart!

Kämpfe in "Romeo und Julia"

Die Spannungen in der Gesellschaft spiegeln sich in „Romeo und Julia“ in der Aggression der Jugendlichen. Hier getanzt vom Bayerischen Staatsballett. Foto: Charles Tandy

Aber nicht nur das Liebespaar, sondern auch das Ensemble in Crankos „Romeo“ hat fantastische Passagen zu tanzen. Weltberühmt ist der „Tanz der Ritter“ auf dem Fest der Capulets. In breiten Seitwärtsbewegungen und diagonalen Verflechtungen brilliert das Corps de ballet mit seinen  historischen Renaissance-Kostümen und zeitgeistig inspirierten höfischen Schritten. Brokatkissen als Statussymbole mit sich tragend, zeigt sich hier eine machtbewusste, aufs Äußerliche bedachte Gesellschaft. Etikette und Selbstausdruck sind da verschmolzen: Körperliche Stärken und geistige Begrenztheiten des Clans der Capulets werden deutlich.

Aber auch beim Karneval auf den Straßen Veronas hat das Ensemble eine Hauptrolle inne; ausgelassen und fast erschreckend aufgedreht zeigt sich das Volk dann. Man spürt die Pulverfass-Atmosphäre dieser in zwei Hälften, in zwei regierende Familien aufgeteilten Machtsphäre. Temperament ist da nicht nur ein Wort!

Fechten - in Crankos "Romeo und Julia"

Die Fechtszenen in Crankos „Romeo und Julia“ erinnern an Filme wie die über die Musketiere. Hier fechten die Tänzer des Bayerischen Staatsballetts, während eines Gastspiels mit „Romeo“ in Muskat im Oman. Foto: Wilfried Hösl

Auch die Cranko’schen Fechtszenen, zumal die Sterbeszenen von Mercutio und Tybalt, sind Kleinode der klassischen Theater- und Tanzkunst. Quart, Terz, Ausfallschritt – die Degen werden aneinander gerieben, als handle es sich um entsprechende „Musketier“-Filme.

Die Münchner Version zeigt sich dabei wunderbar edel, dennoch schmissig in den Originalentwürfen der Kostüme und Bühnenbilder von Jürgen Rose: alle Lebendigkeit der Renaissance, aber auch ihr zwanghaftes Machtbestreben des Bürgertums zeigt sich bereits in der Ausstattung.

Schließlich bilden die Liebestode die Höhepunkte am Ende des Dramas. Romeo stirbt hier theatralisch-langsam, bricht über der vermeintlichen Leiche Julias zusammen, robbt mit letzter Kraft noch unter ihren Körper, bevor er verstirbt. Als sie erwacht, wiederholt sie seine Bewegung: Sie bricht über ihm zusammen (nach der Selbsterdolchung) und kriecht unter ihn, seinen Kopf sterbend hin- und herwiegend. Es ist, als wähle sie wirklich aus freien Stücken nur aus Liebe diesen Tod, auch wenn der Zuschauer weiß, dass sie nur so der Zwangsehe mit einem Günstling ihrer Eltern entkommen kann.

Franco Zeffirelli hat „Romeo und Julia“ 1968 mit der damals noch minderjährigen Olivia Hussey verfilmt, in puristischem Schwarzweiß und mit eben diesem radikal aufs Gefühl konzentrierten Impetus, wie ihn die John-Cranko-Ballettinszenierung hat. Man könnte vermuten, dass Zeffirelli sich von Cranko anregen ließ (wie ja auch der Hollywood-Film „Spartacus“ mit Kirk Douglas vom Grigorowitsch-Ballett inspiriert ist und sichtlich dort Anleihen macht, musikalisch wie dramaturgisch.)

Der Tenor ist also: Liebe muss so absolut und stark und selbstreferenziell sein, dass das gesamte sonstige Leben sich dagegen als nichtig ausnimmt. Natürlich ist diese Übersteigerung nicht wirklich realitätsnah, sondern hat etwas Märchenhaftes. Aber sie rührt an etwas Ureigenes in uns, und jeder, der gerade nicht verliebt ist, wünscht sich eigentlich, baldmöglichst bis über beide Ohren verknallt zu sein. Als sei das eine Art Urzustand oder zumindest ein ganz besonders nobles Lebensziel. Oder etwa nicht?

Lucia Lacarra und Marlon Dino

Ein weiteres Star- und Dreamteam, in diesem Fall sogar auch privat: Lucia Lacarra und Marlon Dino. Hier mit typischer Cranko-Arabeske als „Romeo und Julia“ in Muskat im Oman, wohin ein Gastspiel des Bayerischen Staatsballetts sie führte. Foto: Wilfried Hösl

Die Todessehnsucht Romeos hingegen ist eine zweischneidige Sache und wird häufig verniedlicht. Aber: Hochimpulsiv kommt er daher; da, wo Julia nur verspielt und freundlich wirkt, ist er der aktive Macker, dem ein Missgeschick unterläuft, an dem sein Freund Mercutio stirbt. Dass er dann seinen Kumpel rächt und Tybalt, Julias Cousin, tötet, spricht nicht gerade für seine seelische Reife, wohl aber für sein übersteigertes, pulsierendes Ehrgefühl. Inwieweit man diese Aggressionen bei Romeo als individuell prägend oder als Ausdruck des gesellschaftlichen Einflusses sehen will, ist Auslegungssache.

„Lost generations“ lieben dieses Ballett jedenfalls nicht von ungefähr. Und so empfehlen sich, ergänzend zur John-Cranko-Aufführung, allerhand DVDs, wenn jemand sich näher mit der tänzerischen Romeo-Thematik befassen möchte. Eine Auswahl: So gibt es eine Aufnahme mit Natalia Bessmertnova vom Bolshoi 1989: Sie trägt darin erst einen Traum aus grellrotem Tüll, dann eine Art Giselle-Kostüm, und zudem taucht ein rotes Fahnentuch in der Inszenierung auf. Tatsächlich schafften es die unter der Hand damals schon Perestroika-bewegten Bolschoi-Künstler, Bezüge zur damaligen Situation von Ost- und Westeuropa zu schaffen. Erschienen ist diese zeitdokumentarisch wichtige, außerdem dank der großen Kunst Bessmertnovas zu Tränen rührende DVD in der Zweitausendeins Edition.

Rosen

Rosen – mit Duft oder ohne sind sie ein Sinnbild für die Liebe schlechthin. Foto: Gisela Sonnenburg

Bei KSM gibt es zudem einen Klassiker: den Tanzgott Rudolf Nurejew mit Margot Fonteyn in den Titelrollen. Sie sind schön hier, ein bisschen zu schön vielleicht, in Szene gesetzt. Dennoch: legendär in den Feinheiten der Pas de deux. Das hypermoderne, viel Haut und außerdem so manche kess-avantgardistische Neuerung zeigende italienische Aterballetto lohnt dann in der Version von Mauro Bigonzetti: wenn man es mag, einen Klassiker gegen den Strich gebürstet und sozusagen „absichtlich nicht werktreu“ zu sehen. Aufgenommen wurde dieses „Romeo und Julia“ von einem der „best ballet filmer“, Andreas Morell. Erschienen ist es bei Arthaus Musik. Galina Ulanowa gibt es schließlich in einer weiteren Bolschoi-Version auf DVD gebannt.

Den Besuch einer Live-Vorstellung ersetzen all diese DVD-Variationen indes nicht. In der John-Cranko-Inszenierung (die es bislang auf keiner DVD im Handel gibt) berücken zudem Einzelheiten, die in ihrer Gesamtheit zur Beliebtheit dieser Inszenierung beitrugen.

Julia an Priester

Julia „hängt“ in einer berühmten Cranko-Pose an der Schulter des Priesters: Katherina Markowskaja an Peter Jolesch beim Bayerischen Staatsballett. Foto: Wilfried Hösl

So die Szene von Julia, als sie sich beim Priester, der sie heimlich und formlos mit Romeo vermählte, das verhängnisvolle Schlafgift holt, dank dem sie später für tot gehalten wird – leider auch von ihrem Liebsten. Julia tanzt hier mit dem Pfaffen, bei dem sie Rat sucht – und indem sie ihren linken Arm um seine Schulter biegt, sich daran festhält und mit dem rechten Arm eine fast betende, sehnsüchtige Haltung einnimmt, wirkt sie wie eine Schwebende vor dem Gottesmann. Feministischer kann man eine junge Liebende einem Vertreter eines autokratischen Systems eigentlich nicht entgegen und gleichermaßen auf die Schulter setzen! Julia verkörpert hier die menschliche Liebe vor der Gottesliebe – mit berückender, faszinierend-magischer Schönheit.
Gisela Sonnenburg

Polina Semionova tanzt diese Partie 2016 beim Staatsballett Berlin, das auch andere Besetzungen zu bieten hat:

www.ballett-journal.de/staatsballett-berlin-romeo-und-julia/

www.staatsballett.de

UND SEHEN SIE BITTE INS IMPRESSUM: www.ballett-journal.de/impresssum/

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