Das perfekte Paar in einer unperfekten Welt Ksenia Ryzhkova und Jonah Cook in „Alice im Wunderland“ von Christopher Wheeldon beim Bayerischen Staatsballett

Alice tanzt durchs Wunderland

Auch wenn der gesamte Abend nicht nur überzeugt: Ksenia Ryzhkova ist als Alice absolut sehenswert – mit Jonah Cook als ihrem Herzbuben allemal. Foto: Wilfried Hösl

Man kann sagen, was man will: „Alice im Wunderland“ von Christopher Wheeldon ist so dermaßen knallbunt und quietschvergnügt, dass der Kölnische Karneval dagegen eine Trauerveranstaltung ist. Andererseits passt in Wheeldons Version des Alptraum-Märchens nichts mehr wirklich zusammen. Weil alles fragmentiert und mit neuen Versatzstücken nochmals verzuckert und verkitscht ist. Das, was in der literarischen Vorlage von Lewis Carroll von 1865 teils scherzhaft, teils gruselig, aber immer das wichtige Thema ist – nämlich die Ohnmacht der Kindheit – wird bei Wheeldon zum beliebigen Rundumschlag durch ein fiktives Dreamland. Und so können sich die Künstler vom Bayerischen Staatsballett (BS)– allen voran Ksenia Ryzhkova und Jonah Cook – noch so viel Mühe geben: Es bleibt ein Nachgeschmack, ganz so, als hätte man in einem Fünf-Sterne-Restaurant nur Fastfood serviert bekommen. Allerdings: mächtig dekoriert!

Und zeitweise rieselt es sogar Konfetti ins Publikum – man wähnt sich glatt in einem unbekannten Stück.

Christopher Wheeldon hätte sich aber besser eine ganz neue Geschichte ausdenken sollen (oder jemanden darum bitten), statt ein so renommiert-bekanntes Werk wie „Alice im Wunderland“ falsch zu interpretieren.

Die Krise der Kindheit verblasst hier zu sinnentleerten Effekten – man denkt nicht mehr an Kummer und Sorgen, sondern hat nur noch die bombastischen Hauruck-Effekte surrealer Illusion vor sich.

Schon die Verklammerung der kindlichen Reise ins wilde Land der Fantasie mit einer ganz realistischen Liebesgeschichte ist nicht wirklich schlüssig. Jeder, der was von Dramaturgie und Literatur versteht, weiß: Metaphern haben ihre eigenen Regeln, die in Literatur für Kinder allemal. Normalerweise überträgt sich dieses Wissen, instinktiv reagieren Menschen auf „richtige“ und „falsch“ konstruierte Geschichten.

Hier aber ist alles zugekleistert von enorm viel Kulisse und auch von entsprechenden musikalischen Effekten (von dem für Film wie für Tanz gleichermaßen begabten Joby Talbot).

Alice tanzt durchs Wunderland

„Alice im Wunderland“in München: Ksenia Ryzhkova tanzt sich durch das Stück – und emanzipiert ihre Rolle durch ihren Tanz. Foto vom Bayerischen Staatsballett: Wilfried Hösl

Der bedauernswerte Herzbube aus Alices Traum ist bei Carroll ja gerade nicht ein Superlover, der in der Realität zum Traualtar geführt werden kann.

Nichtsdestotrotz tanzt Münchens Shooting Star Jonah Cook den Herzbuben sanft, dynamisch und herzerweichend, einfach fabelhaft, mitreißend, hingebungsvoll, anrührend. Ist er doch hier zugleich der unterprivilegierte Junge auf der Party der Reichen, dem die nette Alice einen Keks zusteckt, von dem man dann glaubt, der Junge Jack habe ihn sich geklaut.

Wirklich gestohlen hat er aber nur das Herz von Alice, nicht den Kuchen!

Alice – sie ist zusammen mit ihrem Herzbuben die Rettung in diesem Schlamassel aus Klamauk.

Alice ist mit Ksenia Ryzhkova so liebreizend besetzt, dass man in ihr alles verkörpert findet, was das Personal solcher Geschichten üblicherweise für eine weibliche Heldin herzugeben vermag. Es gelingt ihr, dieser an sich beliebigen Stereotype viel Leben und Lebendigkeit einzuhauchen: Diese Alice hätte eigentlich ein besseres Stück verdient. Eines mit weniger Kulissengeschiebe und mehr sinnstiftender Handlung. Eines mit weniger rein situativer Komik und dafür mit hintergründiger Komödie.

Man kann sich Ksenia als Titania in John Neumeiers „Ein Sommernachtstraum“ vorstellen oder auch als Hermia oder Helena darin. Man sieht sie als Cinderella vor sich im Geiste, als „Dornröschen“ oder als „Kameliendame“. Von mir aus auch als „Pippi Langstrumpf“ oder als kleinen Kobold, als Ariel aus Shakespeares „Sturm“ oder auch als verzauberte Prinzessin im „Schwanensee“.

Ksenia Ryzhkova ist eine Tänzerin mit viel Potenzial, mit einer Zartheit in den Bewegungen, die sich blitzschnell in eine kraftvolle Aura verwandeln kann. Vieles hat sie sicher am Bolschoi in Moskau während ihrer Ausbildung gelernt, anderes liegt ihr vielleicht ganz einfach im Blut, und noch anderes hat sie sich in ihrer kurzen Karriere, die in Moskau am Stanislawski-Ballett begann, bereits angeeignet.

Es ist ein Verdienst von Igor Zelensky, dass er nicht nur technikorientierte Tänzer, sondern auch so einen Brillanten wie La Ryzhkova aus Russland mitbrachte.

Sie ist eine Prinzessin, so edel und vornehm. Sie ist aber auch ein kleiner Raufbold, weil so unbefangen und lustig. Schließlich ist sie auch wie eine einsame Abenteurerin, die in ihrer Traumwelt die irrsinnigsten Situationen erlebt und bewältigen muss.

Und obwohl sie als Alice fast permanent auf der Bühne ist, reichlich Stimmungswechsel zeigen muss und rollentechnisch wie nebenbei quasie über Nacht vom Kind zur jungen Frau heranreifen soll, lässt Ksenia Ryzhkova sich keine Spur einer Ermüdung anmerken.

Das putzige, aber auch intelligente weiße Kaninchen kommt ihr da als Ansprechpartner gerade recht!

Alice tanzt durchs Wunderland

Javier Amo bezaubert als weißes Kaninchen – und macht vieles an der gedankenlosen Inszenierung von „Alice im Wunderland“ von Christopher Wheeldon vergessen. Foto vom Bayerischen Staatsballett: Wilfried Hösl

Javier Amo ist in dieser Besetzung einfach fantastisch! Er ist das Tüpfelchen auf dem „i“ dieser Partie, und auf der symbolischen Ebene kann mein seinen Part zwischen Lehrer und Amor gar nicht hoch genug einschätzen.

Er steht für einen wichtigen seelischen Anteil von Alice.

Darum begegnen ihr so ulkige und auch bösartige Gestalten im Traum, und darum ist das weiße Kaninchen ein weißes Kaninchen: Weil es für die Unschuld der Traumarbeit in Alice steht, bei welcher es keine Zensur der Gedanken gegen die Erwachsenen gibt.

Das Karnickel ist sozusagen das personifizierte subversive Element, das zugleich mit der neckischen Tiermetaphorik für kindliche Klarheit sorgt.

Bei Wheeldon ist es zudem so etwas wie ein Conférencier. Mit weiten Sprüngen und aberwitzigem Charme!

Das Böse an sich kulminiert derweil ausgerechnet in der Domina- und Mutterfigur, der Herzkönigin: ein Sinnbild der strafenden, ja sogar blutrünstigen Anti-Mutter.

Séverine Ferrolier, die wegen ihrer massiv sympathischen Ausstrahlung seit vielen Jahren in München eine Heerschar von Fans hat, führt hier als Anti-Besetzung ein imposantes bizarres Kostüm vor, das zugleich ein Fahrgestell ist.

Später erscheint sie als SM-Verliebte beim unehelichen Anbaggern des Henkers.

Das Hintergründige einer derwischartigen Femme fatale bleibt da auf der Strecke; ihr Hass auf den eigenen Sohn wird zum absurden Machtspiel ohne irgendein Motiv.

Alice tanzt durchs Wunderland

Auch das ein revuehaftes Chaos in „Alice im Wunderland“: Die Herzkönigin (Séverine Ferrolier) verbreitet mit ihren Schergen Angst, Hass und Stress. Typisch Mutti? Bei Lewis Carroll weiß man es! Foto vom Bayerischen Staatsballett: Wilfried Hösl

Das haut so nicht hin, lieber Christopher Wheeldon & Co.!

Der Bühnen- und Kostümbildner Bob Crowley durfte sich zwar über Gebühr austoben; aber wenn Superlative der Kitschigkeit entstehen, ist das nicht wirklich toll.

SM-Trash, bühnenfüllendes Hackebeil, Wiesenblumenballett und Engelskitsch inklusive: Man staunt und staunt und staunt – nur Sinn ergibt all das Übertriebene keineswegs.

Doch die Liebe zählt, auch in solch krampfhaft gefälligen Tableaus, und so wird die Schwerkraft nur dazu wieder hergestellt, um in den Soli und Pas de deux des Liebespaares wieder aufgehoben zu werden.

Luftig leicht hebt und lenkt Jonah Cook seine Ksenia Ryzhkova. Sie bilden ja auch in John Crankos Evergreen „Romeo und Julia“ ein so perfekt verliebtes Pärchen, dass man sich die Augen ausweint, weil die Sache dort so tragisch enden muss.

Auch hier sind sie das perfekte Paar in einer unperfekten Welt.

In „Alice im Wunderland“ kommt es wenigstens zum unversehenen Happy End. Auch wenn es dort an sich nicht hingehört: Das ist dann doch so richtig was fürs Herz, auch wenn man – auf der anderen Seite – eben selbiges hergeben muss, um über den derben Jahrmarktplunder in dieser Inszenierung überhaupt lachen zu können.

Lewis Carroll steht in einer traditionellen Linie der Literatur, die sich von den Mythen der alten Griechen bis zu „Peter Pan“ erstreckt. Es gibt viele Möglichkeiten, dieses Kulturgut auch im Ballett sichtbar zu machen – und die eine Geschichte nutzen, um eine Tradition des Denkens und Fühlens fortzusetzen.

Wheeldon verzichtet darauf, er inszeniert lieber spektakuläre, fragmentarisch vereinzelte Nummern, die er aneinander reiht.

Schnell, schneller, noch schneller wechseln Szenen und Personal.

Dennoch oder gerade deswegen hat das Stück vordergründig auch Erfolg, ist doch für jeden Geschmack etwas dabei.

Alice tanzt durchs Wunderland

Tanzende Blumen in Alices Traum, bewacht vom Oblatenengel… ist das logisch? Was hat das mit Lewis Carrolls Geschichte von „Alice im Wunderland“ zu tun? Das Ballett von Christopher Wheeldon will vor allem bunt sein. Foto: Wilfried Hösl

Nach solchen Kriterien sollte man allerdings keine Kulturabende gestalten! Opernhäuser sind keine Würstchenbuden, wo man im besten Falle mit und ohne Senf, mit Käse oder ganz vegan bestellen kann.

Überdimensionierte Kulissen und effektvoll präsentierte Videoprojektionen scheinen allerdings derzeit „in“ bei vielen Ballettbossen – und so tourt Wheeldons Stück durch die Weltgeschichte.

In Kanada tanzt man es genauso wie in London, seinem Ursprungsort, und auch beim Queensland Ballet in Australien.

Dabei ist typisch, dass Wheeldon ohne Sachkenntnis von Literatur agiert – und lieber auf studierte Dramaturgen verzichtet als auch nur einem Hauch von Intellekt mit an Bord zu haben.

Dass ihm der gealterte Dramatiker Nicholas Wright das Libretto schrieb, ändert nichts an dessen mangelhafter Qualität.

Woher rührt nur die große Scheu von vielen (noch) jungen Choreografen, mit Dramaturgen zu kooperiern? Wollen sie sich nichts sagen lassen? Wollen sie lieber schnell und hurtig ein Stück nach dem anderen rausbringen – anstatt sorgsam ein Konzept zu erstellen?

Jedenfalls kann auch Wheeldon nur kurze abstrakte Themenballette – für das abendfüllende Handlungsballett fehlen dem Choreografen schlicht Grips und literarische Bildung.

Das Ergebnis: Lewis Carroll kommt hier als lustig aufgebrezelte Geisterbahn für Kinder einher.

Ballett ist aber kein Revuetheater. Den Unterschied sollte man respektieren, auch wenn sich mit allem möglichen Unfug „Unterhaltung“ machen lässt.

Polina Semionova auf der Pressekonferenz am 24.April 2017

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So bleibt bei der „Alice“ in München trotz aller Bemühungen nicht mal Nonsense übrig, sondern nur: im höchsten Grade verblödender Kitsch. Absetzen!
Franka Maria Selz / Gisela Sonnenburg

www.staatsballett.de

 

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