Es ist alles ein Geben und Nehmen John Neumeier im Ballettzentrum Hamburg zu dessen 25-jährigen Jubiläum – und zuvor im Allianz Forum in Berlin

Ballett ist auch ein Nehmen und ein Geben.

Blick aufs Brandenburger Tor am Pariser Platz in Berlin: vom Balkon des Allianz Forums am Abend von John Neumeiers Auftritt dort. Foto: Gisela Sonnenburg

Es gibt da eine Szene, die dem Choreografen und Gründer des Hamburg Balletts, John Neumeier, seit Jahrzehnten so präsent ist, als habe er sie immerzu und gerade eben erst wieder erlebt: „Sie saß in halb liegender Stellung auf einem Sofa, die eine Hand hielt sie fest auf die Brust gedrückt, die andere hing schlaff herab… von Zeit zu Zeit seufzte sie tief… Ich setzte mich neben sie und fasste ihre auf dem Sofa ruhende Hand.“ Allerdings stammt dieses Zitat nicht von Neumeier, sondern aus dem Roman „Die Kameliendame“ von Alexandre Dumas dem Jüngeren. John Neumeier hat nach dieser literarischen Vorlage – in der die unmögliche Liebe zwischen einem Jüngling aus besserem Haus und einer Edelkurtisane damit beginnt, dass er mit ihr Mitleid hat – sein berühmtes Ballett „Die Kameliendame“ kreiert. Der Pas de deux, der sich aus der zitierten Szene entwickelt, zählt zu den am meisten begehrten Tänzen der Gegenwart. Bei zwei Veranstaltungen spielte der „Blaue Pas de deux“ (benannt nach der violett changierenden Kostümfarbe der Titelfigur darin) jetzt eine besondere Rolle: bei einer Podiumsrede Neumeiers im Allianz Forum in Berlin und beim Tag der offenen Tür in seinem Ballettzentrum in Hamburg, welches somit sein 25-jähriges Bestehen beging.

Aus unerfindlichen Gründen durfte allerdings niemand, nicht mal oder gerade nicht die Presse (mit Ausnahme des Hausfotografen), die Künstler im Haus fotografieren: ein mutmaßlich sittenwidriges Fotoverbot, denn es handelt sich bei Ballett und Kultur mitnichten um geheim zu haltende Pläne aus der Rüstungsindustrie.

Am Samstag, dem 18. April war es soweit: Die Tür zum Ballettzentrum Hamburg, sonst Außenstehenden hermetisch verschlossen, wurde um 14 Uhr geöffnet, um Hunderten von Besuchern Neumeiers Factory zum Live-Erlebnis zu machen. Proben, Trainings, Signieraudienz bei John Neumeier und „Selfie“-Fototermine mit Lloyd Riggins, dem designierten Nachfolger Neumeiers, standen auf dem Programm. Die Company und die Ballettschule gaben ihr Bestes. Darüberhinaus gab es Besichtigungen, Vereinsgespräche und Vorträge – und nur das Bundesjugendballett, auf einer Tournee zwischen einem Arztkongress in Nizza und dem Podium Festival in Esslingen unterwegs, glänzte mit Abwesenheit.

Ballett ist auch ein Nehmen und ein Geben.

Das Portal öffnete sich um 14 Uhr und stand dann bis 18 Uhr allen offen, die rein oder raus wollten. „Tag der offenen Tür zum 25-jährigen Bestehen“ im Ballettzentrum Hamburg – John Neumeier. Foto: Gisela Sonnenburg

Beginnen wir mit dem Abgesang und arbeiten wir uns in großen Bögen langsam durch die Materie: Der allerletzte Tanz gegen 18 Uhr gehörte im Ballettzentrum dem „Hallelujah“ aus dem „Messias“, einer Neumeier-Choreo, die in diesem Jahr über Ostern in der Hamburgischen Staatsoper zu sehen war (zwei ausführliche Artikel zu den Oster-Vorstellungen bitte unter „Hamburg Ballett“ hier im Ballett-Journal). Da Auszüge aus dem „Messias“ auch auf dem Programm der „Ballett-Werkstatt“ am 19. April standen, wurde am 18. April nochmals dafür geprobt. Das zeichnete den Probenplan an diesem „Fest-Tag“ ohnehin aus: Es waren keine nicht-authentischen Pseudo-Proben, die dem Publikum „Arbeit“ als Show-Effekt nur vortäuschen sollten. Sondern es handelte sich um ganz wahrhaftige, harte und härteste Schufterei: mit dem Ziel der Aufführung auf der Bühne, die schon am kommenden Tag eingeplant war.

Der Zeitdruck und die Notwendigkeit zu arbeiten, standen den Künstlern wie eherne Ernsthaftigkeit in die schönen Gesichter geschrieben. Manche, wie Carsten Jung in einem Auszug aus „Des Knaben Wunderhorn“ – also aus der ersten Choreografie, die vor 25 Jahren im „Ballettzentrum Hamburg – John Neumeier“, so der offizielle Name des Gebäudes, entstanden war – boten denn auch wirklich alles auf, was sie tänzerisch und darstellerisch drauf haben und waren dadurch mit ihrem Tanz so ergreifend, so anrührend, dass man sich eigentlich in einer Live-Performance, nicht auf einer Probe wähnte.

Wiewohl das Probenmoment schon durch die räumliche Situation unverkennbar und durchaus auch mit einem eigenen Reiz gesegnet war.

Das Publikum spürte denn auch diese für uns Zuschauer ungewöhnliche, für die Tänzer hingegen alltägliche Notwendigkeit zur Konzentration auf Verbesserung – und man genoss es, Teil dieser Konzentration zu sein und ebenfalls eine allgemein sehr gut erreichte Wachheit und Aufmerksamkeit aufzubieten. Es ist ja alles im Leben ein Geben und Nehmen!

Ein kleiner Einschub sei erlaubt: Wie so oft im Leben dräute auch hier ein Paradoxon. Der Höhepunkt der Probenarbeit, eben die eingangs erwähnte Probe am „Blauen Pas de deux“ aus der „Kameliendame“, war von einem quäkenden Säugling grotesk stark gestört – man fragt sich, was stolze Eltern noch alles tun werden, um den Rest der Menschheit auf ihre biologische Zeugungsfähigkeit hinzuweisen. Babys mit zu Trauerfeiern nehmen? In den Operationssaal, wenn Angehörige unter dem Messer liegen? Übrigens: Hat man je eine live oder pseudolive gesendete Fernsehshow, und sei sie noch so banal, gesehen, zu deren Aufzeichnung man Säuglinge eingeladen hätte? Warum schließen Eltern und Eltern nicht Freundschaften und wechseln sich mit Babysitten unentgeltlich ab? Wieso können heute technisierte und motorisierte Menschen nicht einen Bruchteil dessen organisieren, was Familien in der Steinzeit konnten?

Ballett ist auch ein Nehmen und ein Geben.

Bei gleißendem Sonnenschein lud das Ballettzentrum Hamburg – John Neumeier bei freiem Eintritt zum Besuch ein. Foto: Gisela Sonnenburg

Aber die Deutschen sind ja so über alle Grenzen hinaus kinderlieb geworden, seit man ihnen einredete, sie – und bestimmt die ganze internationale Menschheit gleich mit ihnen mit – seien vom Aussterben bedroht. Da muss man also schon froh sein, wenn die müffelnden Windeln nicht ganz ungeniert öffentlich oder beim Essen, etwa mitten auf dem Restauranttisch eines piekfeinen Lokals, gewechselt werden. Aber was nicht ist, kann noch werden… in der fahrenden U-Bahn und in öffentlichen Parks ist dergleichen schon manchmal zu erleben, jedenfalls in Berlin.

Die Hamburger sind bekanntlich etwas reservierter, was mitunter nachgerade erfrischend ist. So herrschte trotz großen Andrangs im Ballettzentrum ein angenehmer Ton vor, auch ein gewisses freundliches Benehmen, das für den Genuss von Kultur wie des Lebens überhaupt ohnehin unerlässlich sein sollte.

Der Lohn war das Zuschauen beim Entstehen von großer Kunst, wie eben während der „Kameliendamen“-Probe unter der Leitung der versierten, energischen und absolut couragierten Ballettmeisterin Leslie McBeth (die sich übrigens den Eltern des schreienden Babys mit einem deftigen Witz erfolgreich entgegen stellte – danach war Ruhe!).

Es war bewundernswert, wie sehr die Tänzerin Leslie Heylmann und ihr Paartanz-Partner Alexandr Trusch sich auf ihre Partien einließen, zumal, wenn man den genannten Geräuschpegel bedenkt. Da nach Tonband und nicht mit einem Pianisten gearbeitet wurde, konnte die Musik auch die Zuschauer nur bis zu einem gewissen Grad akustisch mitreißen oder ablenken – und die Künstler waren darin gefordet, viel aus sich selbst zu schöpfen.

Ballett ist auch ein Nehmen und ein Geben.

Die Liebe zwischen zwei ungleichen Menschen kann gerade, weil sie gesellschaftlichen Sprengstoff enthält, tief und innig und jede Erfahrung wert sein! Leslie Heylmann als „Kameliendame“ und Alexandr Trusch als ihr Armand auf der unvergesslich schönen Probe am 18.4.2015 im Ballettzentrum Hamburg – John Neumeier. Das die Innigkeit der beiden perfekt einfangende Foto stammt von: Holger Badekow

So eine Probe kann mindestens so aufregend sein wie eine Vorstellung. Am Anfang schaut Leslie Heylmann, der ihr auberginefarbener Proben-Glockenrock mit der großen Schleife überm Po vorzüglich steht, leise keuchend vor sich hin, bereits ganz in der Rolle. Dann tritt sie vor einen imaginären, großen, offenbar erbarmungslosen Spiegel. Er steht dort, wo wir, die Zaungäste, uns befinden! Bekümmert sieht die Kameliendame Marguerite (die im 19. Jahrhundert lebte und wegen ihrer täglich mitgeführten Blumensträuße nach den Kamelien genicknamed wurde) mit suchendem Blick hinein. Also sieht sie uns an und sieht doch das Spiegelbild der Kameliendame. Wie lesen das in ihrem Blick ab. Wie jede Frau ist sie beim Blick in den Spiegel heimlich auf eine freudige Überraschung aus – und wird darin nicht gerade ermutigt. Denn Marguerite ist lungenkrank, und die Auszehrung (die Tuberkulose) zeichnet die junge Frau, sie fühlt sich blass und schwach. Leslie spielte das zart, dennoch deutlich, und ihr rechter Arm beginnt, „Drehbuch-gemäß“, zu zittern, sie wirft, sich abwendend, entsetzt die Hände vors Gesicht – und man fühlte bereits ganz mit ihr, noch bevor die Musik einsetzt.

Das wird auch auf der Bühne später so sein: Mit sich allein vorm Spiegelbild, krank und nervös und unglücklich muss die Kameliendame die Szene ohne musikalische Hilfe bewältigen. Und dem Publikum den gewichtigen Eindruck ihrer Situation vermitteln. Die Pause von Musik ist im Ballett auch Musik: In der Stille wird gezählt, ein unhörbarer Takt schwebt über allem.

Erschöpft begibt sich Leslies Kameliendame zum Sichsammeln zu dem Sofa, von dem auch bei Dumas im Roman die Rede ist: „Sie saß in halb liegender Stellung auf einem Sofa, die eine Hand hielt sie fest auf die Brust gedrückt, die andere hing schlaff herab… von Zeit zu Zeit seufzte sie tief…“

Bei Neumeier sitzt und „seufzt“ – oder atmet betont flach, was Lungenkranke ebenfalls auszeichnet – jede Ballerina anders. Hélène Bouchet, eine oftmals gefeierte Hamburger Kameliendame, die die Partie unter anderem mit dem Gaststar Roberto Bolle tanzte, hält hier das linke Handgelenk über ihre Stirn, und sie schmiegt den Kopf wie hilfesuchend an ihren linken, auf der Sofalehne aufgestützten Unterarm. Man spürt bei ihr in dieser Szene vor allem die große Einsamkeit, an der Marguerite leidet und die sie für das Empfinden einer später wachsenden und dann sogar überlebensgroßen Liebe vorbereitet.

Ballett ist auch ein Nehmen und ein Geben.

Hélène Bouchet als Kameliendame in der einschlägigen, von Tänzerin zu Tänzerin variierenden Pose: Todesnahe Erschöpfung, manchmal aber auch leise Hoffnung klingen hier an. Das trefflich poetische Foto kommt von: Holger Badekow

Marcia Haydée, die „Ur-Kameliendame“, die sowohl die erste Fassung der „Kameliendame“ 1978 in Stuttgart als auch die von und mit Kevin Haigen 1981 in Hamburg überarbeiteten Pas de deux tanzte, legte, anders als La Bouchet, ihren linken Unterarm am Hals vorbei an die rechte Halsschlagader – so, als wolle sie ihr Leben und ihren ausschweifenden Lifestyle mit dieser lässig-abwehrenden, aber auch damenhaften Haltung schützen. Das Canapé wird zu einer Art Boot, das die Kameliendame einsam, aber über die ihr bekannten Wasser treiben lässt. Bis sich der junge Armand, der ihr aus einer Abendgesellschaft gefolgt ist, ihr nähert und ihre herabhängende rechte Hand ergreift – und sie damit erschreckt, weil er unerwartet kommt und von jetzt an ihr Leben beeinflussen und ihre Gedanken bestimmen wird.

Im Bühnenbild von Jürgen Rose ist das Sofa übrigens ein Canapé, eine Art Bettsofa, eine Chaiselongue, also ein Kurzsofa mit nur einer einzigen, ausladend im Profil gebogenen Lehne. Dadurch haben die Tänzer nicht nur andere körperliche Spielmöglichkeiten mit dem Sitzmöbel, als wenn es sich um ein „geschlossenes“ Sofa handeln würde, sondern das Publikum kann vor allem auch mehr davon sehen. Sogar von hinten, denn im Probensaal „Nijinsky“ im ersten Obergeschoss des Hamburger Ballettzentrums sitzt man nicht vorn bei den Ballettmeistern, sondern hinten an der Tür, sodass man die eigentlich wichtige Perspektive aufs Geschehen nur im Spiegelbild hat, dort, wo die Tänzer selbst sich auch sehen. Und zurzeit sogar uns, das sitzende, stehende, hockende Publikum.

Als Sofa muss auf der Probe ein Konstrukt aus einen Bänkchen und einem Stuhl herhalten. Man braucht schon Fantasie, um darin das edle Luxusambiente zu erkennen, das Dumas beschrieben hat. Den Tänzern, die ja sozusagen von Berufs wegen Imaginisten, mehr noch: Dealer mit Imaginationen, sind, fällt das leicht. Und Leslie Heylmann ist professionell genug, um auch für uns in unserer Fantasie ein brokatbesticktes Sofa aus dem hölzernen Gerät zu machen.

Ballett ist auch ein Nehmen und ein Geben.

Noch ein Blick auf den Pariser Platz vom Balkon des Allianz Forums: Die Architekturanlage aus dem 18. Jahrhundert bleibt zu erahnen… und hat eingewisses romantisches Flair, das wiederum ans 19. Jahrhundert erinnert, wie von ferne… Foto: Gisela Sonnenburg

Zwei Tage zuvor hatte Neumeier bei seinem Termin im Allianz Forum – beim 44. Pariser Platz der Kulturen – im Gespräch mit der Tanzpublizistin Dorion Weickmann einen Vortrag zum Thema „Stifterengagement“ gehalten. Dabei ging es sowohl um seine eigene Stiftung John Neumeier (die neben rund 14 000 Büchern zum Thema Tanz und Ballett auch Skulpturen, Gemälde, Zeichnungen, Plakate, Fotos und Requisiten aus den verschiedenen Epochen der Kunstgeschichte umfasst) als auch um die Stiftung Tanz – Transition Zentrum Deutschland, die Neumeier 2010 mit gegründet hat und deren Kuratoriumsvorsitzender er ist. Diese Stiftung widmet sich der Beratung von Tänzern, die aus Alters- oder Krankheitsgründen oder schlicht aus Arbeitslosigkeit heraus den Beruf wechseln wollen oder müssen. Die Transition (englisch ausgesprochen) bezeichnet als Fachterminus den Übergang vom einen Berufsleben ins nächste.

Kern des Neumeier’schen Vortrags in Berlin waren Videoauszüge aus seinen Werken, und zwar einer davon aus der „Kameliendame“: eben der „Blaue Pas de deux“, in der Version mit Agnès Letestu, aufgenommen im Palais Garnier der Pariser Opéra im Juli 2008. Letestu neigt da ihren Arm in der Art von Marcia Haydée – aber noch nonchalanter und weniger ladylike, ganz so, als der Kameliendame hier im Grunde alles völlig egal vor lauter Elendigkeit und Leiden. Man sieht bei Lestestu eine Frau in ihrem schwachen Moment, eine Dame kurz vorm Aufgeben.

JEDE KAMELIENDAME IST EINE ANDERE 

Auch die Interpretation von Alina Cojocaru, die in Hamburg häufig als Gast die „Kameliendame“ tanzte, geht in diese Richtung. Auch sie atmet erst wieder voll durch, als Armand die Szene (ihres Lebens) betritt. Anna Laudere vom Hamburg Ballett hingegen ist die modernste, radikalste und „kantigste“ aller Kameliendamen: Ihre langen Arme dürfen in dieser Szene ein regelrechtes auratisches Eigenleben führen, die Ausdruck eines gewissen Fatalismus, sogar Nihilismus sind. Laudere behauptet sich als Kameliendame durch die Geste des Zusammensinkens auf dem Sofa als Sinnbild der autonom Leidenden. Als bis in die Fingerspitzen hinein fast masochistisch ihrem Leid ergebenen Femme fatale. Natürlich ist das besonders schlüssig im Hinblick auf den weiteren Verlauf der tragischen Liebesgeschichte, die Marguerite letztlich den Verzicht auf Armand abtrotzt, um ihn vermeintlich glücklich zu wähnen.

Insofern ist die Kameliendame die emotionale Schmerzensfrau und sogar Märtyrerin schlechthin in der Weltliteratur. Allerdings muss man das in dieser ersten Szene, in der wir sie kurz mit sich allein sehen, noch nicht so drastisch zu erkennen sein. Im Gegenteil: Weil die „Kameliendame“ ein Entwicklungsballett ist, darf hier auch die Hoffnung, das Vertrauen in die Zukunft keimen. In der Tat steht Marguerite das Wichtigste ihres Lebens, nämlich die wirklich große Liebe, ja noch bevor.

Ballett ist auch ein Nehmen und ein Geben.

Ein Paar wie Salz und Pfeffer (und ein Foto wie sahnige Butter): Leslie Heylmann und Alexandr Trusch in der jetzt schon legendären Probe der „Kameliendame“ am 18.4.2015. Foto: Holger Badekow

So interpretiert es auch Leslie Heylmann im „Nijinsky“-Saal, am Tag der offenen Tür im Ballettzentrum in Hamburg. Sie führt ihren linken Arm zwar bewusst empor, aber nicht posierend, denn sie spielt die Szene sozusagen „psychologisch-naturalistisch“, was Ballett durchaus sein kann und was eine großartige Wirkung haben kann. Bei Leslie stehen der Schrecken der Situation – also die Erkenntnis des durch die tödliche Krankheit beschleunigten Alterns, sogar die im Spiegelbild erkannte Nähe zum Tod – im Vordergrund, und zwar im Kontrast mit der daraus erwachsenden Hoffnung auf eine leise Verbesserung. Ganz klar teilt Leslies Körper mit, dass das Sofa, dieser Ruhepol und thronartige Sitz ihrer feinen Seele, für Marguerite nicht nur ein Ausruhen bedeutet, sondern auch die Hoffnung auf eine Wiederherstellung der angestammten Kräfte. Das Wörtchen „Zukunft“ scheint ihr durch den Sinn zu gehen. Auch wenn Marguerite zu diesem Zeitpunkt noch nicht weiß, was auf sie zukommt, wiewohl sie zeitlich und situativ ganz nah dran ist: Sie ist bereit für etwas Neues in ihrem Leben, ist sogar bereit, sich von Teilen ihres alten Lebens zu trennen. Das ist ein großer emotionaler Unterschied und man möchte sogar sagen: Fortschritt im emanzipatorischen Sinn im Vergleich etwa zu den Interpretationen von Haydée und Cojocaru.

Der Stimmungsumschwung vom großen Entsetzen vor dem Spiegel zur kleinen Hoffnung auf dem Sofa teilt sich derweil ohne große Gesten mit: Leslie Heylmann, die Deutsch-Brasilianerin, die, unterbrochen von einem Jahr „Fremdgehen“ beim Semperoper Ballett in Dresden, seit 2008 beim Hamburg Ballett tanzt, hat sich im letzten Jahr enorm entwickelt. Sie ist von einer vor allem technisch hoch versierten Ballerina zu einer wirklich großen Künstlerin mit verdientem Starnimbus geworden ist, denn sie wurde auch eine Meisterin der feinen Nuancen und der glaubhaften, nicht überzogenen, aber erkennbar individuellen Figurendarstellung. Ihre Kreation von Olga in John Neumeiers „Tatjana“ im letzten Sommer war ein kleiner Geniestreich: Sie bringt das luftig-fröhliche, dabei sinnlich-verschwenderische Naturell dieser Rolle, die die männliche Fantasie so anregt, auf den Punkt.

Ganz anders ist selbstredend ihre Kameliendame. Das Kokettierende und Laszive, das die Figur im ersten Teil unbedingt haben muss, liegt Leslie Heylmann zwar ohnehin, aber dass sie auch keine Angst davor hat, Trauer oder Sinnlosigkeit in ihren Blick zu legen, weil es die Rolle erfordert, ist neu. Ballerinen werden von Kindesbeinen an zu Lächeln und zum Verströmen von gelassener oder auch aufgedrehter Freundlichkeit erzogen. Das Zulassen negativer, kummervoller Empfindungen müssen sie viel härter lernen als vergleichsweise Schauspielerinnen. Umso berückender, wenn es gelingt und das Bild der Primaballerina eine weitere Facette erhält. Und kaum eine Rolle verlangt so viele verschiedene Emotionen wie die Kameliendame. Zu Beginn ihrer Liebe zu Armand muss zudem auch noch das Kurtisanenhafte an ihr im Vordergrund stehen, von dem sie sich dann langsam emanzipiert: Eine gewisse Hysterie sollte in ihrem Blick, ihren Bewegungen liegen, und wenn Kevin Haigen als Erster Ballettmeister und Spezialist für solche ballettösen Paarungen die Szene coacht, fordert er das Angeknipste, Überdrehte, Hysterische von Marguerite noch oftmals von der betreffenden Ballerina ein.

Als Marguerite auf dem Sofa scheint sich Leslie Heylmann in einer Andeutung selbst zu umarmen: Es ist bei ihr eine kurze Geste, um sich Trost und Halt zu spenden und eben auch ganz leise Hoffnung zu empfinden. Es ist wohl die Hoffnung aus Verzweiflung! Was für eine Grundlage für eine tiefgreifende Liebe, die ja schon im nächsten Moment beginnen wird. Die gegensätzlichsten Gefühle mischen sich hier. So hat jede Marguerite aber auch die Freiheiten, in den Details eigene glaubwürdige Interpretationen abzuliefern, denn die Palette des Möglichen ist groß.

Ballett ist auch ein Nehmen und ein Geben.

Eine junge Frau holte sich beim Tag der offenen Tür das perfekte John-Neumeier-Autogramm: auf Spitzenschuhen! Foto: Gisela Sonnenburg

John Neumeier erklärte ja in den letzten Jahren oftmals, so auch im Allianz Forum: „Meine Ballette sind nie fertig!“ Was bedeuten soll, dass er auch große, abendfüllende Meisterwerke gelegentlich bestimmten Tänzern anpasst oder auch sich die Werke an sich noch weiter entwickeln lässt. Wenn es sich dann nicht um ausgesprochene Neuversionen im Sinne einer Uraufführung handelt (wie zum Beispiel beim „Weihnachtsoratorium I – IV)“, geht es dabei allerdings nur um verfeinernde und ergänzende Details, keineswegs um grundsätzliche, die Chronologie, das Libretto oder den Sinn entstellende Veränderungen.

Die Lebendigkeit einer Choreo ergibt sich ohnehin aus dem Live-Moment seiner tänzerischen Interpretation. So gäbe es nun mehr als ein Dutzend international anerkannte Ballerinen in der Rolle der „Kameliendame“ zu beschreiben – und jede ist anders. Von Marcia Haydée über Heather Jurgensen und Sue Jin Kang bis zu Lucia Lacarra und Svetlana Zakharova, von Ida Praetorius über Olga Smirnova bis zu Polina Semionova und, erst vor einer guten Woche premierend, bis zu Igone de Jongh, die mit Marijn Rademaker in Amsterdam das Stück tanzt.

Rademaker betonte im Vorfeld der Aufführungen auch, dass es gerade bei diesem Stück unabdingbar sei, eine Partnerin, einen Partner darin zu haben, mit dem eine spezielle künstlerisch-erotische Innigkeit, ein ganz besonders tiefes gegenseitiges Verständnis möglich ist. Schließlich sind die drei großen Pas de deux in der „Kameliendame“ allerschwierigst, nicht nur technisch, sondern auch inhaltlich. Und: Sie sind Delikatessen des Miteinanders, nicht des „da tanzen jetzt zwei statt einem Menschen“.

Geben und Nehmen

Herzlichen Glückwunsch mit weißen Blumen aus dem Park! Weiße Blumen liebt John Neumeier, und für die kommenden 25 Jahre muss man dem Ballettzentrum Hamburg, das seinen Namen trägt, nun alles Gute, nein: alles Beste wünschen! Foto: Gisela Sonnenburg

Wenn Alexandr Trusch sich zu Leslie Heylmann auf das „Sofa“ im Ballettsaal setzt – dann brennt schon mal die Luft. Die Chemie zwischen den beiden stimmt absolut, und das erweist sich auch bei den folgenden, teils rührend-witzigen, teils dramatisch-hochfliegenden Plänen, die Trusch, zweifelsohne einer der begabtesten Tänzer seiner Generation, als Armand mit dieser hochkarätig leidenden, hoffenden, aber noch keineswegs von der Liebe überzeugten Dame der Gesellschaft alias Leslie Heylmanns Marguerite tänzerisch unterbreitet.

Da wirft er sich ihr zu Füße, hebt sie in höchste Höhen, wirbelt sie um sich, trippelt um sie rückwärts herum, zeigt ihr in eleganten Grands pas de chats und zahllosen Pirouetten, die auch noch teils im Passé oder in der Arabeske Balance haltend enden, was er will und was er kann. Oh! Jedes Beinanheben eine Liebeserklärung, jedes Port de bras ein Versprechen. Trusch hat zweifelsohne das Zeug, nicht nur einen Armand abzugeben, sondern viele verschiedene Temperamentfarben schon im ersten Pas de deux, dem „Blauen“, zu entwerfen.

Allerdings muss er aufpassen, dass er zu seiner eigenen Interpretation sicher findet und nicht, was ihm beim ersten Durchlauf auf dieser Probe passierte, einen seiner zahllosen Vorgänger kopiert. Tatsächlich studierte er wohl ein Video mit Kevin Haigen aus den 80er Jahren, bevor er auf die Probe kam – und genau wie dieser in dieser Szene neigte er zu übergroßer Dramatik und Hingabe, was angesichts der ohnehin „bubihaften“ Figurenzeichnung dann einfach zu dick aufgetragen wirkt. „Trockener!“ hat John Neumeier dann bei Proben manchmal angemahnt. Dann wurden die Bewegungen wunderschön, erkennbar nobel, ausdrucksstark; im Probenprozess ist es mitunter notwendig, zunächst auszutarieren, wo die Grenze liegt.

Beim zweiten Durchlauf ist auch bei Alexandr Trusch dieses kleine Zuviel an sowieso schweissfeucht gespielter Emotion wie weggewischt, dafür erhält jede Sekunde des choreografischen Textes eine anrührende, emotionale Spannung – der kompetenten Ballettmeisterin Leslie McBeth und ihren Argusaugen entgeht ja auch nichts, und manchmal kam sie dann sogar selbst ins Träumen, was ihren schwärmerischen Blicken anzusehen war, wenn Leslie, die Tänzerin, und „Sasha“, wie der Tänzer genannt wird, so ganz stimmig und so ganz eins in dieser absolut genialen Choreografie wurden.

Vom Temperament her ist der Armand von Alexandr Trusch (von dem unter „Hamburg Ballett“ hier im Ballett-Journal auch ein großes Portrait zu lesen ist) der junge, verliebte, aber darin auch knallharte Macho, der seiner Diva statt Geld nur Liebe, Zuwendung, Emotion geben will. Alles, was ein Mann von sich wirklich geben kann. Er gibt alles und er will alles dafür! Trusch kann sowohl diese stürmisch-wildblütigen Seiten Armands zeigen als auch dessen gelegentlichen schüchtern-linkischen Anflüge, und durch dieses Wechselspiel erhält sein Spiel eine erhellende Würze.

"Die Kameliendame" mit Lucia Lacarra beim Bayerischen Staatsballett: Als Spiel im Spiel begegnet die Titelfigur der Manon Lescaut... Foto: Charles Tandy

„Die Kameliendame“ mit Lucia Lacarra beim Bayerischen Staatsballett: Als Spiel im Spiel begegnet die Titelfigur der Manon Lescaut… Foto: Charles Tandy

„Die Kameliendame“ ist keine Geschichte der gegenseitigen Schonung oder Rücksichtnahme. Hier ist die Liebe zwischen zwei Menschen, die das Schicksal zusammen führte, obwohl die äußeren Umstände dagegen sprechen, das einzig wirklich Wichtige in den Augen der Liebenden.

Bis ins Extrem führt entsprechend auch die Paartanz-Choreografie: Marguerite muss sich in jede Richtung neigen und führen lassen, vorwärts, rückwärts, auf einem Spitzenschuh in Arabeske stehend oder wie gefesselt in Armands Arm gekippt, ebenfalls auf Spitze stehend. Da nützen ihr die weit ausholenden, solistischen Tendus vom Anfang des Pas de deux gar nichts mehr! Diese Liebe, mit der Armand ihr zu Leibe rückt, frisst alles andere auf, gönnt Marguerite kein Sich-auf-sich-Zurückziehen mehr. Over. Ihr altes Leben ist vorbei, gesprengt von einem Drängen und Halten, das Marguerite als Entschädigung die schönsten emotionalen Höhenflüge schenkt, die sie sich je erträumte. Zu sehen ist das in einer Hebefigur am Ende dieses „Blauen Pas de deux“, in der sie wie ein Kreuz mit einem angewinkelten Knie, aber mit ausgestreckten Armen auf seinen Schultern ruht. Von solchen Flügen über die Welt hinaus durch die Kraft des Sexus hatte Marguerite vielleicht bewusst noch nicht mal eine Ahnung, obwohl sie diese Lust stets bei den Männern, die sie ausnahm, hervorzurufen wusste!

Die wahre Liebe eines Mannes (Armand) steht hier gegen die Erfahrung einer Kurtisane, also Edelprostituierten. Was für eine Konstellation! Auch heute noch wären solche Liebesgeschichten unfasslich und in der Realität stark tabusiert. Man stelle sich vor: ein Callgirl und ein gesellschaftlich ambitionierter Student. Oder eine renommierte Anwältin und ein Escort! Es wäre ein Skandal, im Großen wie im Kleinen, und die Familie des sozial solider Gestellten wäre strikt gegen so eine offizielle Verbindung, auch heute noch.

Ein Nehmen und Geben

Verführerisch und mit hoch eleganter Linie gesegnet: Lucia Lacarra, „Die Kameliendame“ aus München vom Bayerischen Staatsballett, die diese Partie zuletzt auch in schwangerem Zustand zum Niederknien edel tanzte. Ihr Kind ist inzwischen übrigens da, glücklich, gesund und geliebt – und es wird nicht mit zu öffentlichen Proben an Tagen der offenen Türen geschleppt. Foto: Charles Tandy

Und nun stelle man sich all das mal im 19. Jahrhundert vor! Kein Wunder, dass Dumas mit seinem Werk einen Nerv traf, der zu einer grauenhaften Theaterfassung des Romans führte, in der immerhin namhafte Schauspielerinnen brillieren konnten. Die Pathetik der Musik von Frédéric Chopin, die John Neumeier für seine „Kameliendame“ orchestrieren ließ, kann das nur unterstreichen: Hier steht die Ehrlichkeit des Gefühls über allem, und was sonst nur als peinliches und heimliches Geschäft ausgeübt wird – sexuelle Prostitution und in diesem Sinn mutwillig-spekulatives Verliebtmachen – steht hier als wahre Liebe im Scheinwerferlicht. Die Nutte und ihr Kunde – ein Paar. Auch wenn es das in der Realität vielleicht sogar mitunter gibt und immer gab – der Übergang vom verborgenen Geschäft zur offiziellen privaten Verbindung ist dann immer fließend und findet zunächst unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Armand jedoch hofiert seine Marguerite mit einer Vehemenz, die sich nicht verbergen lässt. Skandalös! Wundervoll! Mitreißend!

Wie genau sieht nun das jüngst „gebackene“ Paar aus der „Kameliendame“ aus? Leslie Heylmann ist eine zierliche Tänzerin mit wunderbaren Spitzenschuhfüßen, die man stundenlang anschauen möchte, wenn sie trippeln, sich im Tendu biegen, wenn die Fußspitzen angezogen werden oder sich der ganze Fuß in Hochform zu einem weit gebogenen Sichelmond reckt. Ihr Gesicht ist fein und ebenmäßig, ihre Hände von großer Zartheit. Dennoch hat sie, bei allem Prinzessinenhaften, auch das Flair einer reifen Verführerin, einer koketten, spielerisch veranlagten Persönlichkeit. Als Kameliendame subsummiert sie ihre Sehnsucht nach Liebe in jeder Geste, jeder Mimik. Alles an ihrer Marguerite ist auf einen Tanzpartner ausgerichtet, auf einen tänzerisch-intimen Dialog – und das bekommt der Choreografie ganz hervorragend. Die hochgradige Bereitschaft bedient nämlich beide Seiten der Marguerite: die selbständig für sich sorgende Kurtisane, deren Kapital ihr erotisch-kommunizierendes Flair ist, und die wahre Liebe, in die sich auch diese Femme fatale letztlich rückhaltlos hinein stürzt.

EIN PAAR WIE FÜREINANDER „GEBACKEN“

Alexandr Trusch ist als ihr Partner wie für sie gemacht. Er ist zwar nicht sehr groß, aber sehr stabil gebaut. Das verleiht ihrer schlanken Zartheit – sie ist zwar nicht besonders klein, aber von androgyner Schönheit – den passenden Rahmen. Und: Trusch verkörpert vom ersten Auftritt an, und zwar von den Fußsohlen bis zum Haarscheitel und mit Schwerpunkten im smarten Hüftbereich sowie im verliebten Lächeln einen darin fast massiven jungen Stürmer und Dränger, dem man das Testosteron, auch ohne daran zu schnuppern, tadellos abnimmt. Ein wirklich aufregendes Paar!

Wenn er ihre Hand nimmt, sie diese erschrocken wegzieht, er nachsetzt und sich neben ihr befindet, er sie hochhebt und auf dem Sofa umsetzt, dann ist schon fast alles klar bei den beiden. Obwohl sie noch abwehrt, sich stumm stellt, ihn eigentlich nicht will. Wer ist er denn, dieser junge, unerfahrene Habenichts? Für sie sind Männer von gesellschaftlich hohem Kaliber interessant, die sich als Beute gut herzeigen lassen und die allerbest für Liebesdienste bezahlen.

Armand aber hat nichts und stellt außer in seinen eigenen Fantasien noch nicht viel dar. Das ist das Tolle an dieser Rolle: Er ist der eigentliche Fantast, der eigentliche Poet hier, denn seine Entwürfe einer gemeinsamen Zukunft mit Marguerite stehen von Beginn an fest. Er will nicht nur einen unbezahlten One-Night-Stand. Er will dieses ganze tolle Mädchen. Und er sieht sie, wie niemand sonst von ihren Verehrern sie sieht: als in der wahren Liebe im Grunde unerfahrene Frau und insofern jungfräulich.

Auch im Ballett ist alles ein Geben und Nehmen.

Auch eine berühmte Kameliendame: Lucia Lacarra vom Bayerischen Staatsballett in ihrer Lieblingsrolle, hier auf einem anderen Sofa als dem, auf dem sie ihren Armand trifft – als elegant-belustigte Verführerin von Welt. Foto: Wilfried Hösl

Seine Verführungskünste sind von daher ungehemmt, draufgängerisch – und absolut virtuos zu tanzen. Alexandr Trusch gleitet auf der kniffligen Choreo dahin wie ein Surfer auf einem Brett bei bestem Wellengang – kein Wackeln, kein Kippeln, kein Unentschiedensein. Nun ja, die Ballettmeisterin Leslie McBeth hat natürlich noch dieses und jenes zu bemängeln. Sie sieht die allerkleinsten Details wie unter einer Lupe und verlangt völlige Treue zur Wahrhaftigkeit.

Das kann auch mal technisch zu bewegen sein. Etwa im Stand nach einer Pirouette. Oder beim emotional-expressiven Hochwerfen eines Arms. Juchhee! Dieser Armand muss etwas unbezwingbar Begeistertes haben, das seinerseits wieder unverfehlbar begeisternd wirkt. Ach. Es kann aber auch um den Ausdruck gehen. Wie nimmt er ihre Hand am Anfang des Miteinanders? Eben. Bitte nochmal so aufgeladen wie eine elektronische Diode.

Und wenn er sie dann langsam, aber sicher becirct und bezaubert und ihr Herz gewinnt – und wenn sie langsam, aber sicher nachgibt, ihr Widerstand sich auflöst, zwar hier noch ein Coup de pied macht und dort noch ein Zögern zeigt, aber alles in allem ist es doch einfach herrlich, sich diesem jungen Mann auszusetzen – ja, dann wissen alle im Raum, warum sie Ballettfans sind.

Man muss auch sagen, dass die als DVD erhältliche Aufzeichnung mit Agnès Letestu und Stéphane Bullion aus Paris von 2008 auch ihre Vorzüge hat; es handelt sich zudem um eine ganz andere Balletttruppe in Paris und auch um eine andere Paarkonstellation, zumal Bullion kurzfristig für den damals eigentlich vorgesehenen, aber dann am Rücken verletzten Hervé Moreau eingesprungen ist und nur sehr wenige Proben hatte. Aber im Vergleich zum „Frischlingspaar“ in Hamburg – denn Alexandr Trusch tanzt diese Rolle erstmalig – schneiden die Pariser nicht überzeugender ab.

Es ist ja immer auch Geschmackssache, welche Tänzer man mit welchen Partnern in welchen Rollen bevorzugt. Aber was Heylmann und Trusch da aufs Parkett oder vielmehr: auf den Schwingboden im Ballettsaal legen, das duftet schon nach Weltklassetheater. Schade, dass die „Kameliendame“ in dieser Spielzeit in Hamburg nicht auf dem Plan steht – man hofft stark darauf, dieses Traumpaar in der kommenden Saison im ganzen Stück zu sehen. Zu der dann live gespielten Musik von Chopin, romantisch und leidenschaflich bis ins Extrem.

Ballett ist auch ein Nehmen und ein Geben.

John Neumeier, der die Massen mit Ballett zu beglücken weiß: hier nach seinem Auftritt im Allianz Forum am Pariser Platz in Berlin. Foto: Gisela Sonnenburg

Dazu passt noch ein Statement aus dem Erfahrungsschatz, das John Neumeier der im übrigen vor Begeisterung auch ganz aus dem Häuschen geratenen Zuhörerschaft im Allianz Kulturforum von sich preis gab: „Der einzige Partner, den man bei einer choreografischen Produktion immer haben kann und der einen wie eine Akupunkturnadel sticht und heilt, ist die Musik.“ Wunderbar gesagt und sogar auch auf die zeitweise Stille zu beziehen – und in Neumeiers Balletten auch stets auf den Wahrheitsgehalt hin zu überprüfen.
Gisela Sonnenburg

www.hamburgballett.de 

Mehr über die „Kameliendame“ mit Lucia Lacarra beim Bayerischen Staatsballett:

www.ballett-journal.de/bayerisches-staatsballett-die-kameliendame/

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