Tanz mir den Amtsschimmel! Sozialer Ringelpiez mit Pfiff von der Berliner Choreografin Canan Erek

Canan Erek erfindet den Tanz und seine Orte neu.

Immer an der Wand entlang: Sie bewegen sich sensibel, verkörpern dabei Rollen, die nicht festgeschrieben sind. Das sind die Protagonisten bei den Tanz-Interventionen von Canan Erek, hier im Bürgeramt in Berlin-Wedding. Foto: Gisela Sonnenburg

Tänze und Behörden? Das ist nicht gerade eine gängige Kombination. Aber die deutsch-türkische Choreografin Canan Erek weiß beides zu vereinen. In Berlin sind ihre Auftritte mitten im bürgerlichen Ämterleben bereits legendär. Wenn man von Tanz an einem ungewöhnlichen Ort – und für ein ungewöhnliches Publikum – reden will, dann hier. Jetzt hat Canan mit ihre getreuen kleinen Tänzertruppe auch Heidelberg für ihre Sache begeistert. Und dem Amtsschimmel das Tanzen beigebracht (siehe Video hier: https://www.youtube.com/watch?v=_4h7RiayNhA). Es folgt ein Bericht von ihrem Auftritt im Mai 2014 in Berlin – aber für jedes Ämterprojekt entwickeln die Choreografin und ihre Protagonisten selbstredend ein neues, eigenes Stück.

Canan Erek erfindet den Tanz und seine Orte neu.

Das ist freier Tanz, wie er freier nicht sein könnte, obwohl sein Ort so ungewöhnlich dafür ist, dass man schier erstaunt. Canan Ereks Choreografie wirkte im Bürgeramt in Berlin-Wedding… Foto: Gisela Sonnenburg

Um 10.30 Uhr ist die Welt im Bürgeramt Wedding – im gleichnamigen früheren Arbeiterbezirk in Berlin – noch in Ordnung. Menschen aus unterschiedlichen Nationen warten auf Ausweise, Meldebescheinigungen, Pässe. Ein Geschäftsmann tippt scheinbar Wichtiges ins Laptop, ein pakistanisches Ehepaar verteilt schmachtende Blicke, eine Studentin simst mit dem Handy. Doch dann beginnt sachte eine Sinfonie des Schepperns. Unter den Wartenden sitzen drei Tänzerinnen und ein Tänzer mit je einem Schüttelinstrument: Murmeln im Glas, Linsen in der türkischen Kaffeebüchse, Reis in einer Dose. Seltsame Geräusche geben sie von sich: rhythmisch gebündelt, mal lauter, mal leiser. Man horcht auf.

Canan Erek erfindet den Tanz und seine Orte neu.

Sie lacht gern, obwohl sie ihre Arbeit genauso ernst nimmt wie irgendwelche hochbezahlten Luxuskünstler: Die Choreografin Canan Erek begeistert mit avantgardistischen Ideen. Foto: Gisela Sonnenburg

Um dieses Aufhorchen und das anschließende Hinsehen geht es der Choreografin Canan Erek. Seit 1987 lebt die geborene Türkin in Deutschland, sie studierte Tanz in Essen und Choreografie in Berlin. Bis 2007 leitete sie drei Jahre das Leipziger Tanztheater. Seither entwickelt sie Projekte in der freien Szene. Dann wurde ihre Tasche gestohlen. Stundenlang saß Erek auf Amtsstuben, mußte vom Ausweis bis zum Führerschein alles neu beantragen. Ihr fiel auf, daß die nervöse Energie der vielen Wartenden eigentlich auch für Kunst intereressant ist.

„Ich wollte raus aus der geschlossenen Kunstszene“, erzählt sie. Da kam ihr der Amtsschimmel gerade zur rechten Zeit in den Weg. Sie fand willige Tänzer, sprach Berliner Bürgeramtsleitungen an, stieß auf offene Ohren. Zwei Jahre erprobte sie ihr Konzept – dann erst ging sie damit an die Öffentlichkeit. Nomen est omen: „dance poetry“ (Tanzpoesie) verheißen die Auftritte. Man könnte sie auch „Poesie ohne Sie“ nennen, denn das Ganze hat auch was Freundlich-Komisches, ja Intimes an sich. Sozialer Ringelpiez oder L’art pour l’art? Eher ersteres, allerdings lässt sich die Kunst im öffentlichen Raum hier pfiffig an.

Canan Erek erfindet den Tanz und seine Orte neu.

Pyramidenbau auf tänzerisch: Das Bürgeramt in Berlin-Wedding mutiert zur Bühne mit Sinnstifung. Foto: Gisela Sonnenburg

Nach dem rasselnden ersten Teil finden sich die Tänzer unangestrengt, mit lässig-neutralem Gesichtsausdruck an einer beige grundierten Wand im Wartebereich wieder. Wie in Zeitlupe biegen sie sich in flippige Posen: Einer streckt einen Arm aus, eine andere geht in die Knie. An der Behördenwand wird sich entlang gehangelt, als böte diese Schutz und Sicherheit im amtlichen Raum. Wie dramatisch eine kahle Wand sein kann! Ein banaler Ort wird poetisiert, fast romantisiert. Man kann dabei gut darüber nachdenken, ob der Antrag, den man ausgefüllt hat, so auch ausreicht.

Die tanzenden Körper finden zusammen, beklettern einander, bilden Türme, Brücken, Knäuele. Ein Mädchen – die einzige Barfuß-Tänzerin – ist besonders wild, will ständig ausbrechen. Doch die Gruppe holt sie zurück. Das unfreiwillige Publikum hält den Atem an, viele lächeln: Man staunt und läßt sich ein auf diese lebende Skulptur. „Magic moments“ nennt Canan Erek es, wenn alle wie bezaubert sind und man eine Stecknadel zu Boden fallen hören könnte. Selbst das Gonggeräusch, das einen der mit Nummern Wartenden in eines der Zimmer ruft, hat dann auf einmal eine Anmutung: als würde es in einer Tempelanlage erklingen.

Canan Erek erfindet den Tanz und seine Orte neu.

Holterdipolter, Halsüberkopf – so fühlt sich bestimmt auch mancher Antragsteller… Tanzkunst von Canan Erek im Bürgeramt in Berlin-Wedding. Foto: Gisela Sonnenburg

Die Reaktionen sind vielfältig. „Was ist denn das?“, fragte mal eine Frau. Sie wunderte sich: „Kann das denn Tanz sein, ohne Musik?“ Verblüfft blieb sie stehen – und guckte. Ein junger Türke hingegen konnte sich die akrobatische Körperkunst nur so erklären: „Ey, die haben wohl was genommen!“ Aber auch er konnte sich der sanften Energie der Tänzer nicht entziehen.

Man spürt: Die Künstler beschäftigten sich vor ihrer Performance mit der Situation, in die sie kommen würden. Canan Erek ging es von Anfang an darum, die Anspannung der wartenden Bürger nachzuvollziehen und aufzufangen. So viel Empathie ist im ständig nach Sensationen und Provokationen brüllenden Kulturbetrieb eher selten. Unspektakulär endet der Auftritt: Ganz plötzlich strebt die Gruppe auseinander.

Canan Erek erfindet den Tanz und seine Orte neu.

Nähe und Distanz – das sind Themen, die man tänzerisch hervorragend bearbeiten kann, und sie spielen auch im Alltag einer Behörde eine Rolle. Canan Ereks TänzerInnen hier im Bürgeramt in Berlin-Wedding. Foto: Gisela Sonnenburg

Übrig bleiben zwei Frauen, die sich wie in einem Schäferspiel des 19. Jahrhunderts an den Armen fassen und zärtlich umherschleudern. Man meint, die Verlebendigung eines alten Gobelins zu sehen. Obwohl die Tänzerinnen Jeans und T-Shirt tragen. Aber der illusorische Sog ist stark. Bis die Frauen grußlos auseinandergehen – auf zur nächsten Show, die etwas später beginnen wird. Sie wird ähnlich ablaufen, Spielraum für Improvisationen gehört aber dazu. Canan Erek sieht da eine Parallele zum Realuniversum: „Im Leben wiederholt sich ja auch nie hundertprozentig was.“
Gisela Sonnenburg

www.cananerek.de

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