Mehr Licht! Wenn das Goethe wüsste: Xin Peng Wang kreiert beim Ballett Dortmund mit Lucia Lacarra und Marlon Dino das Ballett „Faust II – Erlösung!“

Xin Peng Wang kreiert ein Weltballett.

Xin Peng Wang (rechts) kreiert ein Weltballett: „Faust II – Erlösung!“, hier mit Marlon Dino (links) und Dann Wilkinson (mittig) im Ballettsaal beim Ballett Dortmund. Foto: Gisela Sonnenburg

Als Goethe 1832 verstarb, sollen seine letzten Worte, dem Fenster zugewandt, gewesen sein: „Mehr Licht!“ Natürlich wurde dieser Aphorismus sofort symbolisch gedeutet. Mehr Licht, also mehr Aufklärung, mehr Wahrheit und auch mehr Schönheit, könnten als ewige Werte angesichts des drohenden Todes gemeint sein. In christlicher Deutung ergibt sich noch das Jesus-Statement „Ich bin das Licht…“ – und auch die Tatsache, dass irdisches Leben zumeist von Licht abhängig ist, war Goethe, dem vielseitig gebildeten Wissenschaftler und Poeten, nicht fremd. Xin Peng Wang, illustrer Chef vom Ballett Dortmund, hat die enge Beziehung Goethes zum Licht jetzt zur Grundlagen seiner neuen Kreation gemacht: „Faust II – Erlösung!“ vertanzt mit Laserlicht-Kunst statt mit normalen Kulissen den zweiten Teil von Goethes bedeutendstem Werk. Damit traut sich Wang, etwas zu machen, was vor ihm noch nie jemand ernsthaft in Angriff nahm: Faust, der Tragödie zweiter Teil, als Ballettabend. Dass die Superstars Lucia Lacarra und Marlon Dino die Hauptrollen tanzen, ist ein zusätzlicher Anreiz: „Faust II – Erlösung!“ ist ein Höhepunkt in der Ballettmetropole Dortmund.

Die Atmosphäre im Ballettsaal im Theater Dortmund ist nicht angespannt, aber sehr konzentriert. „Faust II – Erlösung!“, das erste Ballett überhaupt über den schwierigen zweiten Teil der berühmten Goethe’schen Tragödie, entsteht.

Xin Peng Wang kreiert ein Weltballett.

Marlon Dino als Faust am Boden und Dann Wilkinson als Mephisto – zwei Männer, die Pläne schmieden… Probenfoto für „Faust II – Erlösung!“ beim Ballett Dortmund: Gisela Sonnenburg

Xin Peng Wang, der in China und in Deutschland umfassend ausgebildete Choreograf, springt von seinem Stuhl auf, um den Tänzern vorzutanzen, was er meint.

Faust trifft auf Mephisto – diese knisternde Begegnung gilt es, in bewegte Körperbilder umzusetzen.

„Zuerst wollte ich einen ‚Faust’ machen, ohne an ‚Faust II’ zu denken“, sagt Xin Peng Wang, dessen Nachname sich „Whong“ ausspricht und der, anders, als es bei wikipedia steht, Xin Peng mit Vornamen genannt wird. „Xin“ spricht sich übrigens mit scharfem „S“ zu Beginn.

Wangs „Faust I – Gewissen!“ wurde im Februar 2016 uraufgeführt – und schlug ein wie eine Bombe.

Der Darsteller des Mephisto, der junge Australier Dann Wilkinson, der in seiner Heimat sowie bei John Neumeier in Hamburg und auch in England ausgebildet wurde, erhielt sogar flugs einen Förderpreis des Landes Nordrhein-Westfalen für seine Leistung.

Der Kontrast zwischen Gut und Böse ist in „Faust I“ das beherrschende Thema, auch symbolisiert von einem Schachbrettmuster auf dem Bühnenboden.

Für „Faust II“ hat sich ein anderes visuelles Konzept ergeben.

Xin Peng Wang kreiert ein Weltballett.

Mephisto weiß, wie er sich Faust hörig macht… Probenfoto mit Marlon Dino und Dann Wilkinson vom Ballett Dortmund: Gisela Sonnenburg

Wang sah nämlich im Museum für Internationale Lichtkunst in Unna Arbeiten des ebenfalls aus China stammenden Künstlers Li Hui. Er arbeitet mit Laserlicht. Und sofort ergaben sich in Wangs Kopf Chimären, wie sich das bunte, mal flächige, mal strahlförmige Licht zu einem Bühnenbild arrangieren ließe…

Gesagt, getan. In Dortmund fackelt man nicht lange. Das war auch so, als der umstrittene Münchner Ballettdirektor Igor Zelensky, der bevorzugt mit Russen arbeitet, die beiden nicht-russischen Superstars des Bayerischen Staatsballetts vor die Tür setzte: Lucia Lacarra und Marlon Dino, ein weltweit viel bejubeltes Sternenpaar der Tanzwelt, hatten auf einmal viel Platz im Kalender.

Sofort fragte Xin Peng Wang nach, ob sie nicht Zeit und Lust für ihn und sein neues „Faust“-Projekt hätten… und er rannte offene Türen bei den beiden ein.

Die Kreation eines literarischen, abendfüllenden Balletts ist schließlich für jeden Tanzkünstler ein aufregendes, anregendes, auch erregendes Erlebnis.

Und bei aller Arbeit, allem Schweiß, auch allem Stress, den eine solche Uraufführung im Schleppnetz zunächst mit sich zu bringen vermag, leuchtet das Ziel der Uraufführung im Verein mit der Freude, Bewegungen mit Sinnstiftung neu zu erfinden.

Xin Peng Wang kreiert ein Weltballett.

Das Streben ist Teil der romantisch-klassischen Seele Fausts. Probenfoto vom Ballett Dortmund: Gisela Sonnenburg

So wie jetzt an diesem regnerischen Tag im Herzen Dortmunds.

„No, look, it’s here!“

Wang sprang mal wieder auf von seinem Sitz, um den Tänzern Marlon Dino – der den Faust tanzt – und Dann Wilkinson als Mephisto (wie schon in „Faust I – Gewissen!“) etwas zu erläutern.

Ein dynamischer Ballettboss!

Sanft, aber deutlich zeigt er, wie es sein soll und wie nicht.

Dann geht er zu einem kleinen Tischchen, auf dem die Musik steht. Also die technische Anlage, um die Musik einzuschalten.

Er singt mit, damit die Tänzer spüren, wie der Rhythmus auf sie wirken soll.

Xin Peng Wang kreiert ein Weltballett.

Manche Bewegungen verlaufen synchron: Faust (Marlon Dino, links) und Mephisto (Dann Wilkinson) beim Ballett Dortmund. Foto: Gisela Sonnenburg

Da gilt es, eine Drehkombination zu absolvieren. Sie soll nicht ausholend vorbereitet werden, sondern wie nebenbei entstehen.

Die Jungs müssen pfiffig sein, schnell im Kopf und noch schneller mit den Beinen, um das so hinzukriegen, wie Wang es verlangt.

Nach ein paar Mal Üben, siehe da, klappt die verzwickte Drehung aber schon sehr gut, bei beiden Tänzern.

Wang ordnet einen Durchlauf der ganzen Szene bis dahin an.

Ah!

Xin Peng Wang kreiert ein Weltballett.

Marlon Dino probt „Faust II – Erlösung!“ von Xin Peng Wang in Dortmund. Probenfoto: Gisela Sonnenburg

Faust, der maßlos wissbegierige Forscher, wird hier von Mephisto beraubt, und zwar um die Kontrolle über sich selbst.

Wie in „Faust I“ liefert er sich immer wieder dem Teufel aus, widersteht nie, er verlässt sich weder auf seine eigene Intelligenz noch auf sein Herz.

Faust lässt sich mit Mephisto von der Gier nach Erfolgen beherrschen.

Dass der Titelheld mit Helena die seit Jahrtausenden als schönste Frau der Welt geltende Person begehrt und zudem mit Mephistos Zauber ein Reisender zwischen den Epochen und Kulturen wird, macht aus „Faust II“ so etwas wie einen Vorläufer der Sci-Fi-Geschichten.

Faust – ein Jedi-Ritter? Die Idee mit der Laserlicht-Kulisse knüpft hier an.

Als Identifikationsfigur auch für junge Menschen bietet sich Faust, verkörpert von Marlon Dino, auf jeden Fall an.

Xin Peng Wang kreiert ein Weltballett.

Sie haben eine enge Beziehung zueinander: Marlon Dino als Faust und Dann Wilkinson als Mephisto in „Faust II – Erlösung!“ von Xin Peng Wang. Probenfoto vom Ballett Dortmund: Gisela Sonnenburg

Marlon Dino, in Albanien geboren und in Tirana und Genf ausgebildet, begann seinen Berufsweg in Wien. Nur ein Jahr später, 2002, holte ihn Ivan Liška zum Bayerischen Staatsballett.

Mit der spanischgebürtigen Weltballerina Lucia Lacarra als Privat- und Bühnenpartnerin wurde Marlon Dino von München aus ein Superstar.

Auf ungezählten Galas, aber auch in vielen gloriosen abendfüllenden Aufführungen im Münchner Nationaltheater tanzten die beiden schon ihre Pas de deux, die entweder dem großen Reigen der Weltklasse-Stücke entstammen oder speziell für sie kreiert wurden.

Ihr Rauswurf aus dem Münchner Ensemble schockierte die Ballettwelt, kam er doch einem Sittenverstoß, einem Verstoß gegen die Regeln des Anstands und der Vernunft gleich.

Xin Peng Wang kreiert ein Weltballett.

Marlon Dino und Dann Wilkinson umgarnen einander aus komplizierten Interessen heraus: als Faust und Mephisto in „Faust II – Erlösung!“ von Xin Peng Wang. Probenfoto: Gisela Sonnenburg

Jetzt hat Marlon Dino allerdings mit dem Dortmunder „Faust“-Projekt die Chance, sich auch als Solist, als Primeur Danseur, weiter zu entwickeln.

Mit Frau und dem gemeinsamen Kind reist er durch die Ballettsphäre, noch mehr als zuvor – und hat beim Dortmund Ballett vorübergehend eine neue zweite Heimat gefunden.

Bei den Proben zeigt er, dass er eine sehr schnelle, geübte Auffassungsgabe hat.

Sein Faust ist ein von übergroßer Sehnsucht gelenkter Mensch.

Für Xin Peng Wang ist es wichtig, dass seine Figuren – auch der Mephisto – stets menschlich sind und nachvollziehbar agieren.

Xin Peng Wang kreiert ein Weltballett.

Xin Peng Wang tanzt vor, wie es sein soll: Auf der Probe für „Faust II – Erlösung!“ beim Ballett Dortmund. Probenfoto: Gisela Sonnenburg

Fast ist Faust hier eine romantische Figur – was ganz im Sinne von Goethe wäre. Denn der „Faust II“ ist gerade nicht einfach nur die Fortsetzung des Frühwerks „Faust I“. „Faust II“ entstand mehr als zwanzig Jahre später, und die Romantik hatte gerade als theatrale Epoche damals parallel zur Klassik bereits ihre Höhepunkte und ihren Einfluss. Goethe wollte darauf reagieren.

So propagierten die Romantiker das Verschmelzen verschiedener Wissenschaften, ganz so, als seien sie Vorläufer des modernen Crossover-Denkens gewesen.

An diesen Aspekt hängte sich Johann Wolfgang von Goethe ran. Die Möglichkeiten, aber auch Gefahren, die von Forschungen ausgehen können, sind von ihm bereits erkannt worden.

Ihm war klar, dass ein Genie allein nicht viel auszurichten vermag.

Xin Peng Wang kreiert ein Weltballett.

Giacomo Altovino tanzt in „Faust II – Erlösung!“ den Homunculus. Eine wichtige Figur! Probenfoto vom Ballett Dortmund: Gisela Sonnenburg

Goethes Mephisto steht im „Faust II“ denn auch nicht nur für den Teufel, sondern auch für den Ermöglicher, den großen Produzenten qua materieller Masse, den Geldgeber, den Wissenschaftssponsoren, wenn man so will.

Damit ist exakt das Verhältnis heutiger Wissenschaft zu ihrem Sponsor definiert. Man kann, wenn man will, das auch in dieser Ballett-Szene erkennen.

Mephisto und Faust treffen sich, Mephisto fängt Faust unmerklich ein.

Zugleich verändert, verzaubert Mephisto seine Beute.

Faust durchlebt eine Metamorphose…

Rückwärts treffen sich die beiden jungen Männer, sinken miteinander in harmonische Gesten und Beinbewegungen.

Die Arme strecken sich nach oben, bilden ein Symbol des ewig Strebsamen.

Xin Peng Wang kreiert ein Weltballett.

Homunculus (Giacomo Altovino) probiert seine Grenzen aus… hier mit einer technisch wie vom Ausdruck her Aufsehen erregenden Pose in der Choreografie „Faust II – Erlösung!“ von Xin Peng Wang. Probenfoto: Gisela Sonnenburg

Die Hände versuchen etwas zu fassen, und Wang erklärt: „Das ist ein Spiel mit Licht!“

Sie versuchen, das Licht zu fassen zu kriegen, das Li Hui ihnen später auf der Bühne aus Scheinwerfern zuspielen lässt.

Faust und Mephisto, sie befinden sich jetzt am Boden, sie ergreifen es, das Licht…

„Mehr Licht!“ Was könnte das alles bedeuten?

In „Faust II – Erlösung!“ kulminiert alles miteinander, was die Menschheit sich je ausgedacht hat.

Mythen und technische Wagnisse treffen aufeinander.

Xin Peng Wang kreiert ein Weltballett.

Xin Peng Wang probt mit Giacomo Altovisto den Homunculus aus „Faust II – Erlösung!“ Foto von der Probe beim Ballett Dortmund: Gisela Sonnenburg

Ein solches Amalgan ist auch der metaphorische Hintergrund der nächsten Szene, die geprobt wird.

Giacomo Altovino, hoch begabter Nachwuchstänzer, italienisch, bildschön, temperamentvoll und bei John Neumeier in Hamburg ausgebildet, kommt lässig in den Ballettsaal.

Ich erkenne ihn kaum wieder, obwohl ich vor vier Jahren, also 2012, schon einmal über ihn schrieb. Damals schaute ich bei der Ballettklasse von Christian Schön im Ballettzentrum Hamburg – John Neumeier zu. Und publizierte dann in einer Tageszeitung einen Bericht.

Darin heißt es: „Besonders fällt der italienische Schüler Giacomo auf. Von der Natur mit hoher körperlicher Eignung fürs Ballett gesegnet, ist er mit so viel Spaß bei der Sache, daß sein Tanz fast ansteckend wirkt. Die gegenseitige Motivation der Schüler, ihr Teamgeist, ist im Ballett wichtig.“

Xin Peng Wang kreiert ein Weltballett.

Giacomo Altovino – ein hoch begabter Nachwuchsstar. Probenfoto vom Ballett Dortmund: Gisela Sonnenburg

All diese Eigenschaften hat der heutige Giacomo Altovino selbstredend auch noch zu bieten. Zudem aber ist er so erwachsen geworden, so ausgereift und auch männlich, dass ich ihn tatsächlich fast nicht erkannt hätte.

Na, es war aber auch ein unerwartetes Wiedersehen!

Er tanzt den Homunculus, jene Laborkreation, die sich Goethe als Besonderheit für den „Faust II“ ausdachte.

Dabei geht es aber nicht um ein Monster der Marke Frankenstein.

Sondern um ein Menschlein, das in einer Phiole, einem Glasbehälter, gefangen ist.

Weil er nicht selbständig entstand und auch nicht selbständig leben darf.

Weil er seiner Freiheit, die jedes natürliche Lebewesen haben sollte, von vornherein beraubt wurde.

Xin Peng Wang kreiert ein Weltballett.

Giacomo Altovino als Homunculus in „Faust II – Erlösung!“ von Xin Peng Wang beim Ballett Dortmund. Probenfoto: Gisela Sonnenburg

Der Homunculus ist das Gegenbild zu Faust und seinen Träumen von einer immer freieren Welt…

Er ist ein Phänomen und ein Opfer zugleich.

Der Homunculus ist wie das Kind, das sich schon erwachsen fühlt, aber nicht hinausgelassen wird, in die weite Welt.

Um die Gefängnis-Situation des Homunculus deutlich zu machen, lässt Wang ihn in einem Licht-Käfig tanzen.

Grüne Laserstrahlen werden auf der Bühne von oben kommen und den Homunculus umzingeln und einsperren.

Xin Peng Wang kreiert ein Weltballett.

Der Schöpfer und sein Instrument, der Choreograf und sein Tänzer: Xin Peng Wang und Giacomo Altovino. Probenfoto: Gisela Sonnenburg

In einem elegant-erotischen, rosa-hautfarbenen Leotard wird der Homunculus zweifelsohne ein Blickfang sein. Und mit seiner Körpersprache, die ihm Wang verlieh, wird er darüber Mitteilung machen, wie es ist, als Laborgeburt auf der Welt des Menschen zu sein – als dessen Sklave, als Experimentiergut, als von vornherein zweckbestimmt kreiertes Lebewesen.

Die Szene ist, zumal der Homunculus menschenähnlich ist, ergreifend.

Giacomo Altovino schlängelt sich, räkelt sich, ist ein Ausbund an Sinnlichkeit.

Dieser Homunculus ist keine sterile Laborkreatur, sondern ein Wesen mit sehr viel Gefühl und Ausdruckskraft.

„Die Kunst wird mir eine zweite Natur!“, notierte Goethe sich während seiner berühmten „Italienischen Reise“. Das war 1787.

Mit dem Homunculus – der viel später entstand, und die Arbeiten an „Faust II“ dauerten von 1825 bis 1831 – versuchte Goethe, ein Wesen vorzustellen, das auf seine Art einmalig sein sollte. Es sollte nämlich ein „wissender Geist“ sein, der da im Labor des ehemaligen Faust-Schülers Wagner in die Welt gesetzt wurde.

Xin Peng Wang kreiert ein Weltballett.

Giacomo Altovino verkörpert ein allwissendes, aber künstlich erzeugtes Lebewesen: den Homunculus in „Faust II – Erlösung!“ von Xin Peng Wang. Probenfoto: Gisela Sonnenburg

Die Vorstellung eines von vornherein vollkommen wissenden, perfekten Kunst-Menschen ist abenteuerlich genug.

Bei Goethe hat er aber zudem noch eine dramaturgische Funktion im Stück: Er soll Faust den Weg zu Helena weisen, dieser Inkarnation aller weiblichen Schönheit und Fantasie, aller weiblichen Lust und auch der weiblichen Macht.

Bei einer Bühnenprobe erscheint Helena, getanzt von Lucia Lacarra. Zart und stark zugleich wirkt sie.

Faust hat sie bereits gesehen, zielstrebig geht er von schräg hinten auf sie zu – und die immer wieder berückende Magie des Paartanzes von Marlon Dino und Lucia Lacarra entfaltet sich.

Selbst auf einer Probe erscheinen sie als die perfekte Verkörperung von Mann und Frau, sind im Tanzen so harmonisch und intim miteinander, dass es eine pure Freude ist, sie anzusehen.

Xin Peng Wang kreiert ein Weltballett.

Eleganz und Begehren: Lucia Lacarra und Marlon Dino bei der Bühnenprobe zu „Faust II – Erlösung!“ von Xin Peng Wang beim Ballett Dortmund. Foto: Gisela Sonnenburg

Die Spanierin hat eine große Weltkarriere hinter sich, brillierte erst in Madrid, dann in Marseille bei Roland Petit, dann in San Francisco, ab 2002 in München. Und: überall auf der Welt, wo man Ballett liebt und ehrt!

Legendär sind ihre Gala-Auftritte, vor allem mit Ehemann Marlon Dino als Partner.

Seine hoch gewachsene, fast strenge, schlichte Schönheit und ihre zierliche, geschmeidig-gelenkig-graziöse Anmut passen so ideal zusammen wie die Rose und die Rebe, die in der Literatur die ewige Liebe von „Tristan und Isolde“ symbolisieren.

Dass dieses Paar die Uraufführung von Xin Peng Wangs „Faust II – Erlösung!“ tanzt, bedeutet: Faust und Helena sind das vollkommene Paar, es ist, als hätte man Adam und Eva neu erfunden.

Und zwar verlief die Neuschöpfung der Menschheit dieses Mal ohne Makel und hinderliche Haken. Also ohne improvisierte Erschaffung der Frau aus bloßem Männermaterial wie einer Adamsrippe (was evolutionsbiologisch ohnehin in jeder Hinsicht Unfug ist).

Xin Peng Wang kreiert ein Weltballett.

Sie ist graziös und zierlich, er von schlichter, strenger Schönheit: Lucia Lacarra als Helena und Marlon Dino als „Faust II – Erlösung!“ Probenfoto: Gisela Sonnenburg

Dieses Mal sind Adam und Eva wirklich füreinander geschaffen worden, als sich ergänzende, sich harmonisierende Gegensätze – und welch ein großes Glück ist es, Marlon und Lucia tanzen zu sehen!

Wang hat ihre Qualitäten erkannt und in poetisch-vielschichtige Pas de deux umgesetzt. Die Tragik der grausamen Weltkomödie, die die perfekte Liebe, die perfekte Familie nicht überleben lässt, mag da noch so sehr dagegen stehen…

Für die Momente des Tanzes ist hier die Utopie der größtmöglichen Liebe Wirklichkeit geworden – eine Bühnenrealität, die nicht nach weiteren Hintergründen fragt.

Xin Peng Wang kreiert ein Weltballett.

Wenn sie tanzen, wird die Welt ein Stück schöner: Lucia Lacarra und Marlon Dino bei der Bühnenprobe für „Faust II – Erlösung!“ Foto: Gisela Sonnenburg

Im „Faust II“ endet die Liebe indes ohne Erfüllung; der Sohn Fausts stirbt, seine Mutter gleich mit… die Erlösung betrifft nur die metaphysische Seite der Medaille – aber sonst wäre das apokalyptische Szenario, das Goethe erschuf, wohl auch allzu biedermeierlich-anheimelnd.

„Dreitausend Jahre Kulturgeschichte stecken in dem Werk“, sagt Wang, der voll Respekt ist für die „Großkultur“, wie er Weltkultur nennt. Sowohl die europäische als auch die chinesische Kultur haben ihn geprägt, und er hat sich mit beiden Hochkulturen schon als junger Mann liebend gern auseinander gesetzt. Er ist kein Studio-Zombie, der stets nur über die ballettöse Schönheit von Füßen und Sprüngen nachdachte. Er weiß, was Literaturlesen bedeuten kann, was Literatur mit einem Menschen macht. Und er genießt es, sich jetzt ausgiebig mit dem Esprit von Goethe zu beschäftigen.

Sein Weltbild ist dabei ein anderes als das des mahnenden Klassikers. „Der Mensch kann die großen Probleme lösen“, sagt Xin Peng Wang – und ist fest davon überzeugt, dass am Ende das Gute immer siegen wird.

Xin Peng Wang kreiert ein Weltballett.

Helena und Faust – ein Dreamteam! Lucia Lacarra und Marlon Dino auf der Bühnenprobe für „Faust II – Erlösung!“ beim Ballett Dortmund. Foto: Gisela Sonnenburg

Es ist selten, dass man heutzutage jemanden trifft, der ein so festes Vertrauen in die Zukunft hat und dieses auch ohne Umschweife sagt.

Xin Peng Wang beeindruckt mich. Und ich bin Lucia Lacarra und Marlon Dino dafür sehr dankbar, dass sie mich zu ihm nach Dortmund lockten.

Ich muss gestehen, mich im östlichen Teil der Republik mit Abstechern nach Norden und manchmal gen Süden sehr kuschelig eingerichtet zu haben.

Aber das Ballett Dortmund zu sehen, wie es trainiert, wie es probt, wie es auf der Bühne arbeitet, mit engagierten Tänzerinen und Tänzern und gebührend strengen Ballettmeistern, war eine Offenbarung, die ich niemals vergessen werde.

Xin Peng Wang kreiert ein Weltballett.

Helena und Faust gehören sichtlich zusammen – in „Faust II – Erlösung!“ von Xin Weng Pang mit Lucia Lacarra und Marlon Dino. Bühnenprobenfoto vom Ballett Dortmund: Gisela Sonnenburg

Xin Peng Wang im Ballettsaal zu sehen, ist zudem eine Freude für sich – unprätentiös und uneitel arbeitet er ganz intensiv an seiner Sache, damit diese eine für uns alle werde.

Hier ist, fast unbemerkt von vielen Ballettkennern und Fans, mitten in Nordrhein-Westfalen tatsächlich ein neues Ballettwunder entstanden!

Dortmund hat Glück gehabt. Und weiß es wohl auch zu schätzen.

Während an anderen Orten ungebildete Politiker dem Ballett mit großem Unverständnis entgegen treten, wird das Dortmund Ballett mit Sachkompetenz und aufmerksamer Huldigung verwöhnt.

Da gibt es eine Juniortruppe, einen neues Ballettgebäude mitten im Park, dazu Förderpreise und Sponsoren, die sich mit der Kulturpolitik einig sind.

Xin Peng Wang kreiert ein Weltballett.

Manchmal klingt George Balanchine an: Ensemble-Szene in „Faust II – Erlösung!“ von Xin Peng Wang beim Ballett Dortmund. Bühnenprobenfoto: Gisela Sonnenburg

Genau so soll es sein in einer Demokratie, die auch mit Hochkultur etwas anzufangen weiß!

Xin Peng Wang, der bereits mit Literarballetten wie „Der Zauberberg“, „Manon Lescaut“, „Krieg und Frieden“, „h.a.m.l.e.t.“ und eben „Faust I – Gewissen!“ große Erfolge feierte, hat hier große Verdienste.

Er hat seit 2003, seit er als Ballettdirektor in Dortmund antrat, dort eine ernst zu nehmende eigene Tanzkultur etabliert. Er präsentiert den Bühnentanz als international bedeutsam – und hat ihn dennoch, regional passend, auf die Kultur des Landes zugeschnitten.

In seinem „Zauberberg“ nach Motiven des Romans von Thomas Mann erschallt sogar deutsches Liedgut, von einem Männerchor gesungen – und mit einer so fremdartigen Ästhetik versehen, dass man den Eindruck hat, der Held Hans Castorp (von Dimitry Semionov sehr toll getanzt) gehe mit seiner Krankheit, der Tuberkulose, auf eine letzte große Reise durch die deutschsprachigen Kulturnischen des 20. Jahrhunderts.

Xin Peng Wang kreiert ein Weltballett.

Die Mädchen vorn haben edle neoklassische Posen eingenommen: Ensemble-Szene aus „Faust II – Erlösung!“ von Xin Peng Wang beim Ballett Dortmund. Bühnenprobenfoto: Gisela Sonnenburg

Es ist ungewöhnlich, dass ein Choreograf sich so liebevoll der Literatur als Vorlage widmet.

Mit dem bedeutenden, so oft auch vom Sprechtheater gescheuten zweiten Teil von Goethes „Faust“ nimmt Xin Peng Wang sich nun einer wirklich wichtigen Aufgabe an.

Und nach allem, was ich vorab davon gesehen habe, kann ich nur sagen: Er hat ein fantastisches Konzept dafür. „Mehr Licht!“ – das bedeutet hier wirklich: mehr Aufklärung, mehr Wahrheit und auch mehr Schönheit.

Xin Peng Wang kreiert ein Weltballett.

Giacomo Altovino vom Ballett Dortmund probt den Homunculus in Xin Peng Wangs „Faust II – Erlösung!“. Foto: Gisela Sonnenburg

Wangs „Faust II – Erlösung!“ verspricht somit, eine absolute Sensation zu werden. Was, Sie haben noch kein Ticket? Na, dann aber los!
Gisela Sonnenburg

Bericht von der Uraufführung in Dortmund bitte hier:

www.ballett-journal.de/ballett-dortmund-faust-ii-xin-peng-wang-ua/

Termine: siehe „Spielplan“

www.theaterdo.de

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