Poesie und Warnung Lucia Lacarra und Matthew Golding arbeiten an ihrem Programm „Fordlandia“, das beim Ballett Dortmund uraufgeführt wird: „Snow Storm“, das jüngste Werk von Yuri Possokhov, ist inklusive

"Fordlandia" vereint sechs junge Paartänze mit Lucia Lacarra und Matthew Golding

Atemberaubend: Lucia Lacarra und Matthew Golding in „After the Rain“ von Christopher Wheeldon, dessen Pas de deux ein Teil von „Fordlandia“, dem kommenden Programm der beiden Startänzer beim Ballett Dortmund, ist. Foto: Jesus Vallinas

Der Titel wirkt elektrisierend, ja pulsierend, so poetisch wie warnend zugleich, auch wenn nur Wenige wissen, was sich hinter dem Stichwort „Fordlandia“ eigentlich verbirgt. Zunächst mal heißt ein herzlich willkommener Ballettevent so: Lucia Lacarra, eine der weltbesten Primaballerinen, und ihr aktueller Bühnenpartner Matthew Golding erarbeiten jetzt im Sommer mit dem Ballett Dortmund ein brandheißes Programm dieses Namens, bestehend aus sechs hochkarätigen, modernen Pas de deux. Nach geplanten acht Aufführungen in Dortmund ab dem 19. September 20 wollen Lacarra und Golding mit diesem Abendzu zweit auf Tournee gehen – international, wenn möglich. In Dortmund wird – davon unabhängig – zudem am 17. Oktober 20 das Corona-Stück „Abstand“ vom genialen  Ballettchef  Xin Peng Wang uraufgeführt werden; zuvor werden ab dem 12. September 20 die „Only Soloists!“ der „Internationalen Ballettgala XXXI“ begeistern. „Fordlandia“ aber, ein Paartanzabend mit viel zeitgenössischem Glamour, entstand in der Planung tatsächlich schon vor dem Corona-Chaos. Der Starchoreograf Yuri Possokhov kreierte sein darin enthaltenes jüngstes Werk „Snow Storm“ zielgerichtet für und mit Lucia und Matthew– schon vor der pandemischen Veränderung! Die Krise der Isolationserfahrung während des Lockdown verstärkte allerdings den Mut aller Beteiligten, diesen Abend zu wagen.

Fünf Uraufführungen stehen darin an, und nur der Pas de deux „After the Rain“ von Christopher Wheeldon ist in seiner globalen Aufführungsgeschichte schon als Erfolgsstück bewährt. Auch hierin gehen Poesie und Warnung eine anmutige Verbindung ein: Moment für Moment reihen sich darin einzelne Augenblicke wie Miniaturposen aneinander, fügen sich, aufeinander aufbauend, zu einem Ganzen.

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Nachgerade hellseherisch passt die Choreografie zum Thema des neuen Lebensstils im Zeichen der Corona-Schutzmaßnahmen, obwohl sie bereits 2005 beim New York City Ballet (NYCB) uraufgeführt wurde. Wheeldon, der 1973 in England geboren wurde und 1997 begann, als Choreograf zu arbeiten, war zuvor sowohl beim NYCB als auch beim Royal Ballet, wo er derzeit als Stellvertretender Künstlerischer Leiter ist, als Tänzer aktiv.

After the Rain“ („Nach dem Regen“) ist ein intensives Stück Ästhetik, das pur in Trikots und – vom männlichen Tänzer – mit nacktem Oberkörper zu tanzen ist.

Zu Beginn des hier gezeigten Pas de deux aus dem Stück stehen Mann und Frau mit Abstand (!) nebeneinander; sachte wippen ihre gestreckten Körper synchron im Takt der zunächst wie einzeln tröpfelnden Klänge.

Langsam dividieren sich die Bewegungen auseinander, teilen sich in die des Mannes und die der Frau, also in zwei tanzende Individuen mit verschiedenen Empfindungen. Doch die Spannung zwischen ihnen wächst.

Bis sie dann auch zusammen finden, in einer Umarmung, die fast nur aus dem Aneinanderpressen der Körper besteht.

Lucia Lacarra postet auf Facebook zu ihrem Foto: „I bend so I don’t break.“ Wie wahr! Faksimile von Facebook: Gisela Sonnenburg

Später biegt sich die zarte Frau in eine Brücke, wird vom starken Mann in dieser Position gedreht und getragen – und sachte wieder hingestellt wie ein fragiles Möbelstück.

Er entdeckt ihre Möglichkeiten für sich – und legt sich einfach unter sie, diese lebende Brücke, dieselbe gleichsam mit einem Arm zunächst noch schützend, um schließlich selbst unter ihr Schutz zu suchen.

Gegenseitig gespendeter Schutz als  Sinn und Zielpunkt einer jeden Beziehung – das übermittelt dieser graziöse Zweitanz zweifelsohne.

"Fordlandia" vereint sechs junge Paartänze mit Lucia Lacarra und Matthew Golding

„After the Rain“: Lucia Lacarra und Matthew Golding in dem intensiven Pas de Deux aus dem gleichnamigen Stück von Christopher Wheeldon. Welche Aussicht nach der Corona-bedingten Bühnenpause! Foto: Jesus Vallinas

Zweifel weckt nur die Musik, die mit ihrer bewusst naiven, dennoch unterschwellig melancholischen Schönheit suggestiv betört.

Diese Musik des estnischen Komponisten Arvo Pärt ist Ballettfans seit 1985 als Gänsehautfaktor bestens bekannt: Kein Geringerer als John Neumeier kreierte seinen berühmten Lendentuch-Pas-de-deux in „Othello“ zu „Mirror in a Mirror“, dem elegisch-faszinierenden Stück für Violine und Klavier. Es ist eines der erotischsten Meisterwerke, die die Geschichte des Bühnentanzes überhaupt kennt.

"Fordlandia" vereint sechs junge Paartänze mit Lucia Lacarra und Matthew Golding

Noch einmal Lucia Lacarra, als solle sie die Liebe selbst personifizieren, im Pas de deux aus „After the Rain“ von Christopher Wheeldon. Foto (Ausschnitt): Jesus Vallinas

Sich nun diese Musik für ein neues Werk vorzunehmen, hat eine hohe Messlatte. Wheeldon, der auch in anderen Balletten von Neumeier lernte – wie auch von Frederick Ashton und Kenneth MacMillan – betont denn auch die Lyrik in seiner Choreografie, im Gegensatz zu Neumeier, dessen Stil vor allem dramatisch ist.

Das versöhnliche Ende von „After the Rain“ steht denn auch in konkretem Kontrast zum Ende des „Othello“-Pas de deux, das der harmonischen Vereinnahmung unter Liebenden zugleich etwas Bedrohendes verleiht.

Ein Experte für Ambivalenz ist – wie der Deutschamerikaner John Neumeier – auch der russischstämmige Choreograf Yuri Possokhov. Und wie Neumeier und Xin Peng Wang gehört Possokhov fest in den Reigen der interessantesten und begabtesten Choreografen unserer Zeit.

Wie Wheeldon begann auch Yuri Possokhov im Jahr 1997, seine choreografische Arbeit öffentlich zu zeigen. Und im Wheeldon-Stück „Sea Picture“ kreierte Possokhov als Tänzer eine Hauptpartie – Querverbindungen gibt es also mehrere.

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Yuri Possokhov in Aktion auf der Probe – lange vor dem Corona-Crash… Er ist ein kundiger, kreativer, seelenvoller Choreograf, einer der bedeutendsten Zeitgenossen im Tanz. Faksimile von Facebook: Gisela Sonnenburg

Im Jahr 1964 geboren, trainierte Possokhov noch unter dem legendären Lehrer Pjotr Pestov am Choreografischen Institut in Moskau. 1982 trat er als Tänzer ins Bolschoi Ballett ein; mit Yuri Grigorovich lernte er durch und von dessen Choreografien, wurde zügig zum Solisten und dann zum Ersten Solisten ernannt; er partnerte noch Natalia Bessmertnova. Die Ära am Bolschoi, die ihn prägte, kann und muss als kulturell besonders wertvoll gelten.

Als Titelheld in „Der verlorene Sohn“ tanzte Possokhov zudem die Hauptrolle im ersten Stück des russisch-amerikanischen Choreografen George Balanchine, das das Bolschoi überhaupt ins Repertoire aufnahm.

Vor allem aber studierte Possokhov neben seiner Tänzerkarriere auch Choreografie und Ballettpädagogik an der Moskowiter Staatlichen Akademie für Choreografie, und er schloss 1990 als eine Art Meisterschüler den Fünf-Jahres-Kurs bei dem bekannten Choreografen Evgeny Valukin ab.

Die politischen Folgen von Glasnost und Perestroika eröffneten ihm aber auch ganz neue Wege.

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1992 begann Possokhov beim Royal Danish Ballet in Kopenhagen unter anderem in Stücken von Neumeier und John Cranko zu tanzen, und von dort führte ihn sein Weg als Erster Solist zu Helgi Tomasson zum San Francisco Ballet. In Kalifornien partnerte er auch Lucia Lacarra, die damals als Primaballerina bei Tomasson wirkte.

Possokhov begann, mit großem Erfolg für das San Francisco Ballet zu choreografieren. Tomasson erwies sich als souveräner Förderer des großen Talents. 1998 gab es bereits eine Koproduktion für eine Uraufführung mit demAmerican Ballet Theater in New York, und seither choreografiert Yuri überall auf der Welt, wo man ihn schätzt – außer bisher in Deutschland.

Sein Stil ist klassisch, aber auch modern; humoristisch, aber auch tiefgründig und ernst; hochästhetisch, dabei aber auch humanistisch. Keine Bewegung, keine Geste ist in seinem Werk ohne Sinn oder nur gymnastische Dekoration. Er beherrscht den „Quickie“, die kleine Kurzform, ebenso wie das große abendfüllende Ballett, was er etwa mit „Ein Held unserer Zeit“ und seiner Version von „Anna Karenina“ bewies.

Und: Yuri Possokhov hat ein großes Talent, Tänzerinnen und Tänzer in ihrem Wesen zu erkennen und sie mit Choreografien zu entwickeln. So arbeitete er schon mit Svetlana Zakharova und mit Yuan Yuan Tan, um nun für Lucia Lacarra eine Frauenpartie nach einer literarischen Vorlage zu schöpfen.

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Lucia Lacarra und Matthew Golding proben „Snow Storm“ von Yuri Possokhov – hier eine Kreationsaufnahme, die vor dem Corona-Chaos entstand. Faksimile von Instagram: Gisela Sonnenburg

Der „Snow Storm“ („Der Schneesturm“), den er für das mutige Bühnenpaar kreiert, basiert auf einer Erzählung von Alexander Puschkin, dem großen Russen des 19. Jahrhunderts, der auch die Vorlage für die Tschaikowsky-Oper „Eugen  Onegin“ und das Ballett „Onegin“ von John Cranko geliefert hat.

Es geht darin um eine Liebe mit Umwegen: Zunächst lieben sich eine Frau und ein Mann, die aus familiären Gründen nicht zusammen kommen können. Sie verabreden sich für die heimliche Eheschließung in einer entlegenen kleinen Kirche. Im Nachhinein jedoch müssen beide feststellen, dass in der Dämmerung des Lichts die falsche Ehe geschlossen wurde.  Denn der Mann hatte aufgrund eines Schneesturms einen Unfall mit seiner Kutsche und kam verspätet zu seiner eigenen Hochzeit. Da war die Braut aber schon vermählt – mit einem Mann, den sie Jahre später, nach dem Tod des Erstgeliebten, wieder trifft und in den sie sich dann verliebt. Ende gut, alles gut – die beiden bilden ein spätes, aber glückliches Liebespaar.

Der Pas de deux von Possokhov vereint die verschiedenen Stimmungen der Liebe, die hier in Aufregung und Schicksalhaftigkeit kollidieren. Kein leichtes Unterfangen – aber einem Yuri Possokhov darf man ruhig vertrauen.

Er ist ja ein Spezialist für komplizierte Fälle! Großes Aufsehen erregte das zusammen mit dem Regisseur Kirill  Serebrennikov entwickelte Stück „Nureyev“ am Bolschoi Theater, das 2017 premierte, aber zunächst aus zensorischen Gründen (es zeigte auch die Homosexualität von Rudolf Nurejev) wieder abgesetzt worden war. Seit 2018 zählt es zu den Erfolgen am Bolschoi.

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Yuri Possokhov und Tamara Rojo 2019 in Possokhovs Pas de deux „Broken Wings“ über Diego Rivera und Frida Kahlo. Wow! Faksimile von YouTube: Gisela Sonnenburg

Selbstironie und viel Herz bewies Possokhov 2019 mit dem ungewöhnlichen, ja  bitterwitzigen  Pas de deux „Broken Wings“ („Gebrochene Flügel“), den er zusammen mit Tamara Rojo selbst aufführte: Er mit Bierbauch in der Rolle des kommunistischen Malers Diego Rivera, sie mit Blumen und Haarkranzfrisur in der Partie der mexikanischen Schmerzensikone der Kunst, Frida Kahlo.

Es ist wirklich etwas sehr Besonderes, dass Yuri Possokhovs jüngstes Werk in Dortmund uraufgeführt werden wird:

Er ist ganz sicher einer der bedeutendsten lebenden Choreografen überhaupt.

Lucia Lacarra und er kennen sich nun noch aus seiner Zeit als Primoballerino in San Francisco, sie tanzten dort gemeinsam. Das Band, das die beiden seit der Proben und Auftritte damals verbindet, hat nun zu einer neuen Kreation geführt.

Für Lucia Lacarra, die in Spanien gebürtige Weltballerina, die zunächst von Roland Petit in Marseille, dann von Helgi Tomasson in San Francisco, schließlich von Ivan Liska in München, von Xin Peng Wang in Dortmund und von Victor Ullate in Madrid(vor dem plötzlichen Zusammenbruch seiner Truppe) unter Vertrag genommen wurde, ist ihr neues  Projekt ebenso aufregend–  im Sinne eines künstlerischen Abenteuers – wie Ausdruck einer inneren künstlerischen Notwendigkeit.

Nach der Erfahrung des Shutdown, den sie in Spanien verbrachte und der sie immerhin ihrer kleinen Tochter Laia sehr nahe brachte – erstmals verbrachten Mutter und Tochter viele Tage und Nächte am Stück miteinander – ist die nachgerade erleuchtete Ballerina Lucia Lacarra unbedingt wieder zielsicher mit ihrer Arbeit beschäftigt.

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Lucia Lacarra, für viele Kenner die Weltbeste der Ballerinen heutzutage: geschmeidig, expressiv, zart, leidenschaftlich – und totally stylish, wie der Engländer sagt. Hier in einem Ausschnitt aus „After the Rain“ von Christopher Wheeldon. Foto (Cut): Jesus Vallinas

Das bedeutet für die Künstlerin in ihr: Arbeiten mit der Seele, mit den Gefühlen. „Alles, was wir tun können, ist den Menschen mit Tanz Trost und Hoffnung zu geben“, sagte sie mir im Gespräch.

Liebe ist immer eine Option“, sagte sie weiter, und für sie spielen in den Pas de deux vor allem die Emotionen die entscheidende Rolle. Wahrheit und Wahrhaftigkeit, Liebe und Zuneigung, Glaube und Glaubwürdigkeit – all die Facetten der zwischenmenschlichen Bindungen, die sie und Matthew Golding vorführen, müssen schimmern und glitzern und in ihrer Vielfalt und Intensität kenntlich werden.

Matthew Golding ist zudem der künstlerische Kopf des Duos, von ihm stammt das Konzept des „Fordlandia“-Projekts.

Der gebürtige Kanadier wurde in seiner Heimat sowie an der Universal Ballet Academy in Washington, USA, ausgebildet. Der Prix de Lausanne ermöglichte ihm sein Stipendium an der School of Royal Ballet in London. Er begann seine Karriere als Tänzer beim ABT in New York, um bald zu Het Nationale Ballet nach Amsterdam zu wechseln, wo er zum Ersten Solisten avancierte. Von 2014 bis 2017 tanzte er in gleicher Funktion beim Royal Ballet in London– und als Gastsolist ist er mittlerweile überall in der Ballettwelt bekannt und beliebt.

Das deutsche Publikum kennt ihn vor allem als sehr attraktiven Gaststar beim Bayerischen Staatsballett, wo er als Graf Wronski in „Anna Karenina“ in der Version von Christian Spuck reüssierte. Was für eine kleine Ironie des Schicksals: Auch Lucia Lacarra  wurde dem deutschen Publikum vor allem über ihr Engagement als Liskas Starballerina in München bekannt, allerdings bevor Matthew Golding die Bühne des dortigen Nationaltheaters in „Anna Karenina“ betrat.

Seit letztem Jahr bilden Lucia Lacarra und Matthew Golding als Freiberufler mit Superstar-Status ein stürmisch umjubeltes Paar auf Galas und bei Gastauftritten.

"Fordlandia" vereint sechs junge Paartänze mit Lucia Lacarra und Matthew Golding

Stark und doch sensibel: Matthew Golding im Pas de deux aus „After the Rain“ von Christopher Wheeldon. Foto (Cut): Jesus Vallinas

Was aber bezeichnet der Titel ihres kommenden, bislang größten gemeinsamen Projekts? Hat er gar etwas mit dem Autohersteller Ford zu tun?

Tatsächlich: „Fordlandia“ bezeichnet eine als Geisterstadt bekannte Gegend in Amazonien, Brasilien. Henry Ford sen.kaufte hier 1920 ein Stück Urwald, um von 8.000 Arbeitern in einer eigens dafür erbauten Ortschaft (eben „Fordlandia“) Kautschuk anbauen und Autoreifen herstellen zu lassen. Aber das Projekt schlug fehl: Aus Gier nach Profit bei mangelnden landwirtschaftlichen Kenntnissen wurden die Kautschuk-Pflanzen zu eng gesetzt, sodass sie anfällig für Krankheiten waren.

Und: Die einheimischen Arbeiter waren keinen westlichen Lebensstil gewohnt, sie revoltierten gegen feste Arbeitszeiten ohne Alkohol- und Tabakkonsum. Als 1945 der synthetische Kautschuk aus Chemiefabriken in den Wirtschaftskreislauf gelang, führte das zur endgültigen Aufgabe des Areals, welches vom Staat Brasilien aufgekauft wurde. Aber noch 1944 drehte Walt Disney, steter Anhänger der von der Regierung der USA erwünschten Wirtschaftszweige, den absurd jubelnden Werbefilm  „The Amazonas awakens“ („Der Amazonas erwacht“). Passender klingt wohl der Titel eines Beitrags der Frankfurter Rundschau von 2013 über das missglückte Vorhaben: „Was vom Größenwahn bleibt“.

Die traurig-entleerte Stimmung einer fast leeren Stadt – Fordlandia, einst für fast 10.000 Menschen erbaut, hat heute mal gerade gut 1.000 Einwohner – erinnert an die ehemalige Autometropole Detroit in den USA, die – nah der Grenze zu Kanada gelegen – ebenfalls teilweise zu einer Geisterstadt wurde, seit sich die Automobilindustrie hier verspekulierte (namentlich war in dem Fall General Motors).

"Fordlandia" vereint sechs junge Paartänze mit Lucia Lacarra und Matthew Golding

Kann streng und stark: Anna Hop, talentierte Jungchoreografin, hier im mimischen Sketch auf ihrer Homepage. Faksimile: Gisela Sonnenburg

Für das neue Ballett ist die von dem Desaster inspirierte gleichnamige Musik „Fordlandia“ von Jóhann Jóhannsson entscheidend. Jóhannsson,1969 gebürtiger isländischer Komponist und Filmemacher, war schwer krank und starb 2018 an einer Überdosis Kokain in Verbindung mit Medikamenten. Aber sein Oeuvre macht ihn unsterblich: 2013 erlang er internationalen Ruhm mit der Filmmusik zu dem Psycho-Thriller „Prisoners“, und das schwebend-zirpende Kammermusikstück „Fordlandia“, das eine jenseitig-naturhafte Stimmung verbreitet, wurde auch schon in der Elbphilharmonie in Hamburg aufgeführt.

Die junge polnische Choreografin Anna Hop hat es für den Tanz entdeckt. Sie steuert zwei Paartänze zu „Fordlandia“ bei, darunter eben das Titelstück. Hop, 1990 geboren und in Warschau sowohl ausgebildet als auch als Balletttänzerin, Choreografin, Regisseurin und Tanzpädagogin tätig, hat bislang relativ wenig außerhalb Polens zeigen können. Aber die Chance, gemeinsam mit Wheeldon und Possokhov zu performen – und dann auch noch für so exponierte Künstler wie Lacarra und Golding zu kreieren – hat sie sich redlich verdient.

Sie studierte außer Ballett auch Kommunikation, PR und Medienmarketing, weiß also, wie man Kunst verkauft. Und sie hat bereits einen schelmisch-hintergründigen eigenen Stil entwickelt, mit sich und ihren Gedanken an die Öffentlichkeit zu treten.

Auf ihrer Homepage etwa präsentiert sie sich dieser Tage mit einer mimisch-filmischen Visitenkarte: mit einer eigenwillig-ansehnlichen Art, mit dem Gesicht zu tanzen.

"Fordlandia" vereint sechs junge Paartänze mit Lucia Lacarra und Matthew Golding

Kann auch niedlich und schalkhaft: Anna Hop, Choreografin aus Warschau, im filmisch-mimischen Sketch auf ihrer Homepage. Faksimile: Gisela Sonnenburg

Seit 2010 sammelt Anna Hop Erfahrung als Choreografin, und sie ist auf Miniaturen spezialisiert. Geprägt haben sie darin unter anderem Krzysztof Pastor, in dessen „Licht und Schatten“ sie auftrat, sowie Vaslav Nijinsky, in dessen historisch rekonstruiertem „Sacre du Printemps“ von 1913 sie tanzte.

Und noch ein Choreograf wird die „Fordlandia“-Schau spannend machen: Juanjo Arqués, der 1977 in Spanien geboren wurde. Er ist das Nesthäkchen unter den Choreografen hier. Und wie bei Matthew Golding ist seine Karriere eng mit Het Nationale Ballet in Amsterdam verknüpft: Dort war er bis 2012 unter Ted Brandson Tänzer, und seit 2017 bekleidet er dort die Position eines Young Creative Associate.

Arqués sagt von sich, dass er die Sprache des modernen Tanzes mit den neuen Medien, der (alten) Mythologie, mit Literatur und Architektur verbindet. Außer für Het Nationale Ballet und dessen Juniortruppe kreierte er am New Yorker Choreographic Institute und für das Origin Festival Cultural in der Schweiz. „Homo Ludens“ („Der spielende Mensch“) heißt sein wichtigstes Stück von 2017. 2019 wurde er – wohl auch dank der guten Beziehungen von Ted Brandson – für den Benois de la Danse in Moskau nominiert.

"Fordlandia" vereint sechs junge Paartänze mit Lucia Lacarra und Matthew Golding

Juanjo Arqués ist das choreografische Nesthäkchen von „Fordlandia“. Der Spanier tanzte bei Ted Brandson in Amsterdam und hat dort heute einen Kreativjob. Faksimile von seiner Homepage: Gisela Sonnenburg

Sein Werdegang wurde durch die Corona-Krise genauso abrupt unterbrochen wie so viele andere Entwicklungsmöglichkeiten von Künstlern und Nichtkünstlern in dieser Zeit. Wir müssen das als Warnung annehmen, die Kultur nicht vor die Hunde gehen zu lassen, auch wenn die Einnahmen, bedingt durch die Corona-Schutzmaßnahmen, nicht mit denen vor der Pandemie zu vergleichen sind.

Fordlandia“ wird da auf genussvolle Weise allen helfen, sich auf das Wesentliche zu besinnen!
Gisela Sonnenburg

www.theaterdo.de

www.yuripossokhov.com

www.annahop.com

www.juanjoarques.com

 

 

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