Der Sonntag mit dem Zauberberg Das dramatisch-ästhetische Tanzmeisterstück „Der Zauberberg“ von Xin Peng Wang steht mit dem Ballett Dortmund heute online

Das dramatisch-ästhetische Tanzmeisterstück „Der Zauberberg“ von Xin Peng Wang steht mit dem Ballett Dortmund heute online

Am Ende geht ein junger Mann dem Tod entgegen – Hans Castorp, getanzt von Dmitry Semionov, in „Der Zauberberg“ von Xin Peng Wang beim Ballett Dortmund. Videostill: Gisela Sonnenburg

Man kann den Roman „Der Zauberberg“ von Thomas Mann lesen wollen, schafft das aber nie an einem einzigen Sonntag. Man kann und sollte aber sowieso das gleichnamige Ballett von Xin Peng Wang mit dem Ballett Dortmund anschauen – und das kann man, wenn man will, den ganzen lieben Sonntag lang, nämlich als Online-Stream, der beliebig zu wiederholen ist. Oder man schaut es sich, ebenfalls online, eben nur einmal an. Das allerdings sollte man machen. Denn so oder so ist die Gefahr, dass einem dabei langweilig wird, absolut minimal. In eindrucksvollen Bildern und mit ausdrucksstarken Tänzen spielt sich in einer gelungenen Aufzeichnung von 2014 das Beziehungsgeflecht von kranken oder sich krank fühlenden, von Sterbenden und Nicht-richtig-leben-Wollenden in einem luxuriösen Sanatorium in den Alpen ab. Schließlich bricht der Erste Weltkrieg aus – und begräbt alle Hoffnungen wörtlich.

Der Held Hans Castorp, elegant-elegisch und melancholisch-maliziös getanzt von Dmitry Semionov, durchschreitet am Ende einen Graben aus Tuch und geht in Richtung Licht, das aus einem blau leuchtenden Kubus kommt – das Dunkel umhüllt derweil die Bühne wie ein Totentuch. Was für ein Bild!

Bis zu diesem starken Abgang am Schluss des Handlungsballetts erleben Castorp und wir jedoch viele ganz andere Facetten der Faszination.

Das Bühnenbild vom fabelhaften Frank Fellmann, der oftmals für Wangs Stücke die kunstvollen Kulissen designt, und das atmosphärisch starke Licht von Carlo Cerri unterstützen die gezeigten Erfahrungen eines Ahnungslosen.

Von einsam-heldischen Träumen ohne bewusste gesellschaftliche Rückbindung bis zum Ausprobieren der paradiesisch-nudistischen Vision, wie sie zu Beginn des 20. Jahrhunderts aufkam, durchläuft Castorp die verschiedensten Stationen des Möglichen.

Aber: Castorp bleibt innerlich unbeteiligt, verweigert eine Haltung zu den Dingen und somit auch die persönliche Entwicklung. Das wird ihn später anfällig machen für den Wahn, in den großen Krieg und somit in den sicheren Tod zu ziehen.

Nur die Liebe und die Freundschaft reißen ihn gelegentlich aus den Tagträumen.

Der junge Mann verliebt sich in die schillernde Clawdia (wunderschön wie eine typische Jugendstil-Ikone: Monica Fotescu-Uta).

Er leidet mit seinem tuberkulosekranken Freund Joachim (der in seiner Geschmeidigkeit und mit tollem Schauspiel absolut hervorragend von Dann Wilkinson getanzt wird).

"Der Zauberberg" von Xin Peng Wang beim Ballett Dortmund

Eine Frau, tanzend im Konflikt – „Der Zauberberg“ von Xin Peng Wang ist ein anspruchsvolles, sinnliches, moderndes Ballett und kein öder Unterhaltungskram für geistig Träge. Videostill aus dem Stream vom Ballett Dortmund: Gisela Sonnenburg

Er lässt sich von der freundlichen Nelly (zugleich zurückgenommen und strahlend: Jelena Ana Stupar) umgarnen und verehren.

Er philosophiert mit dem unheilbar kranken Ludovico (expressiv: Guiseppe Ragona) und bewundert den Jesuiten Naphta (fast ätherisch, dennoch sinnlich von Arsen Azatyan dargestellt).

All das aber implodiert, als das grauenvolle Weltgeschehen in das Paralleluniversum des Sanatoriums einbricht: Der große Krieg beginnt.

Der Tanz des Ensembles zur aufrüttelnd rhythmischen Musik von Lepo Sumera bildet eine mitreißende, anrührende, orgiastisch choreografierte Welle aus Schönheit und Tragik.

"Der Zauberberg" von Xin Peng Wang beim Ballett Dortmund

Dann Wilkinson tanzt den kranken Joachim im „Zauberberg“ von Xin Peng Wang: mitreißend, ergreifend, anrührend. Videostill vom Ballett Dortmund: Gisela Sonnenburg

Wie ein Strudel wirbelt der Tanz da alles durcheinander, mischt die gesellschaftlichen Verhältnisse auf, bringt aber auch jeden Menschen in Lebensgefahr und viel zu viele zu Tode.

So ein bewegender, zugleich mahnender und begeisternder Online-Stream zeigt, was Ballett alles kann!

Wirklich nicht verpassen, bitte – egal, wie schön die Sonne draußen scheint!

Man kann ja sein Ballett übrigens auch ins Café oder in den Biergarten mitnehmen, Handys und Tablets, Kopfhörer mit und ohne Kabel machen’s möglich.

Dann entgeht einem auch nicht jener satirisch-selbstdarstellerische Tanz mit Stühlen, in dem  Hans Castrop zu höchst eleganten Variationen des bekannten Auf-in-den-Kampf-Themas von Georges Bizet (aus seiner Oper „Carmen“) gedanklich fast zum Torrero mutiert.

Die Einführung durch den Dramaturgen Christian Baier ist übrigens ebenfalls mit allen Sinnen zu genießen: Wissen schadet schließlich nicht, sondern hebt nur den Geschmack.

Und Baier zieht sogar Parallelen zur Corona-Krankheit, nennt den „Zauberberg“ ein „höchst aktuelles Portrait einer Gesellschaft, der die Luft ausgeht“. Was indes vor allem im übertragenen Sinn gemeint ist: Eine auf Konsum und Fassade reduzierte Gesellschaft ist im Untergang begriffen, am Vorabend des Ersten Weltkriegs ebenso wie heute.

"Der Zauberberg" von Xin Peng Wang beim Ballett Dortmund

Auch über Thomas Mann informiert der Stream: direkt in der Einleitung von Christian Baier, indirekt durch die Vertanzung seines Romans. Videostill aus dem Stream „Der Zauberberg“ mit dem Ballett Dortmund: Gisela Sonnenburg

Xin Peng Wang, Ballettdirektor und Chefchoreograf vom Ballett Dortmund, hat mit diesem Premierenabend 2014 jedenfalls einen ganz großen Wurf gelandet, ein wahrhaftiges Tanzmeisterstück – und man kann sich beim Theater Dortmund nur dafür bedanken, dass es die Aufzeichnung kostenfrei an diesem Wochenende zugänglich macht.

Dankeschön für soviel richtig verstandene Staatskultur!
Gisela Sonnenburg

Der Stream „Der Zauberberg“ (1′ 50“) steht bis Sonntagnacht, 23.59 Uhr, online!  

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