Unerfüllte Liebe im alten China „Der Traum der roten Kammer“, ein Ballett nach chinesischer Weltliteratur von Xing Peng Wang ist mit dem Ballett Dortmund am Wochenende als Stream zu sehen

"Der Traum der roten Kammer" beim Ballett Dortmund

Eine mächtige Familie im alten China stellt sich dar – so zu sehen in „Der Traum der roten Kammer“ von Xin Peng Wang beim Ballett Dortmund. Foto: Thomas Jauk

Mal wieder geht es um eine Dreiecksgeschichte, wie so oft im Handlungsballett. Allerdings kommt die Story dieses Mal aus Fernost und aus Dortmund und keineswegs aus Paris oder Sankt Petersburg. Es handelt sich auch nicht um ein ehrwürdiges klassisches Ballett, sondern um ein ganz modernes. Die Konstellation der Figuren ist mit ihrem weit gefassten  gesellschaftlichen Umfeld gekoppelt, Zeit und Raum lösen sich schließlich auf – und von daher ist das Stück besonders spannend. Ein Mann steht darin zwischen zwei Frauen – und entscheidet sich falsch. Um ihn herum versinkt seine Dynastie. Es gibt einen Aufstand, er verliert seinen hohen Status. Bald ändert sich das ganze Land. Die Kirschblüten werden verblassen. All dies spielt im alten China, das von Xin Peng Wang und seinem Team mit dem Ballett Dortmund prachtvoll auf die Bühne gebracht wurde. „Der Traum der roten Kammer“ ist ein collagiertes Handlungsballett nach dem gleichnamigen Roman von Cao Xueqin. Wenn man diese chinesische Weltliteratur auf ästhetisch-dramatische Weise kennenlernen möchte, sollte man sich an den Online-Stream halten, der am Samstag um 19.30 Uhr auf theaterdo.de beginnt und bis Sonntag um Mitternacht dort zu sehen ist.

Es beginnt mit der Vorgeschichte, und die hat einen buddhistischen Touch. Da wurde ein Stein nicht wie seine Gefährten zu den beiden Himmelspforten verbaut, sondern blieb wegen unzureichender Beschaffenheit übrig.

Schwer gekränkt bittet der Stein darum, zur Erde gehen zu dürfen sprich als Mensch wiedergeboren zu werden. Sein Wille geschehe – aber glücklich wird er darum noch lange nicht.

Der Jüngling Pao Yü, getanzt von Mark Radjapov, ist zwar der Sproß einer mächtigen Familie.

"Der Traum der roten Kammer" beim Ballett Dortmund

Der Jüngling Pao Yü – getanzt von Mark Radjapov – muss sich zwischen zwei Frauen entscheiden. So zu sehen in „Der Traum der roten Kammer“ von Xin Peng Wang beim Ballett Dortmund. Videostill: Gisela Sonnenburg

Der Autor Cao Xueqin verarbeitet in seiner Geschichte, die sein einziges überliefertes Werk ist, seine eigene Autobiographie. Der Roman wurde vermutlich 1759 vollendet und ist als Seitenhieb auf den Untergang der Dynastie Kia gemünzt. Das Ballett von Wang wurde im November 2021 in Dortmund uraufgeführt – und es umfasst mehrere Epochen.

Zurück zu Pao Yü. Er ist schön, stark, reich. Aber sein Schicksal läuft nicht glatt.

"Der Traum der roten Kammer" beim Ballett Dortmund

Mark Radjapov und Monica Fotescu-Uta als Pao Yü und seine große Liebe in „Der Traum der roten Kammer“ von Xin Peng Wang beim Ballett Dortmund. Videostill: Gisela Sonnenburg

Er soll sich zwischen zwei Cousinen zwecks Heirat entscheiden: Die Eine wird von seinem Clan favorisiert, sie ist reich und gesund und bereits mit ihm verlobt. Die Andere aber, von der nicht nur in Dortmund legendären Monica Fotescu-Uta getanzt, ist ebenso verträumt und poetisch veranlagt wie Pao Yü selbst. Sie hat sein Herz, obwohl sie einem verarmten Zweig der Familie entstammt und von schwacher Gesundheit ist.

Beim Tanz trägt sie stets Grün, ein grasfarbenes Grün, eines der Hoffnung und der ewigen Liebe. Ihre Konkurrentin trägt mal Rot, mal Gelb, sie ist stolz und schön. Pao Yü entscheidet sich vielleicht darum falsch, er heiratet die Reiche. Und verzehrt sich nach der Anderen, die ihm einst ihre Gedichte zeigte. Doch sie stirbt, und zuvor verbrennt sie ihre Poesie.

Auch nach ihrem Tod kann Pao Yü sie nicht vergessen. Sie geistert durch sein Leben, tags wie nachts. Die Macht der Familie löst sich auf, bald ist nichts mehr, wie es war.

"Der Traum der roten Kammer" beim Ballett Dortmund

Ein Aufstand des Militärs entmachtet die Dynastie, der Pao Yü entstammt. Xin Peng Wang zeigt das mit tänzerischen Mitteln in „Der Traum der roten Kammer“ beim Ballett Dortmund. Videostill: Gisela Sonnenburg

Es gibt einen Aufstand, und militärische männliche Wesen, in ihren altchinesisch inspirierten Kampfgewändern irgendwie auch Weltraumrittern ähnlich, besiegen Pao Yü. Seine Welt geht unter, endgültig.

Literaturwissenschaftler vergleichen diese Geschichte nicht ohne Grund mit den „Buddenbrooks“ von Thomas Mann.

Die Idee, daraus ein Ballett zu machen, hatte der Dortmunder Dramaturg Christian Baier. Dennoch ist es die künstlerische Kraft der Kreationen, der Tänze, die den hauptsächlichen Zauber dieses Stücks ausmacht.

"Der Traum der roten Kammer" beim Ballett Dortmund

Auch Fröhlichkeit gibt es im alten China – so in „Der Traum der roten Kammer“ von Xin Peng Wang beim Ballett Dortmund. Am kommenden Wochenende gibt es dieses faszinierende Stück online als Stream zu sehen. Foto: Thomas Jauk

Soli und Pas de deux, aber auch Interaktionen und harmonisch gestaltete Gruppenszenen faszinieren, schildern sie doch zugleich eine alte, vergangene Gesellschaft wie auch die Gefühle ihrer Mitglieder, welche allgemein menschlich und nur allzu verständlich sind.

Liebe und Eifersucht, Starrsinn und Reue, aber auch Frohsinn und Gleichmut, Genuss und richtig heftige Verliebtheit sind hier zu sehen.

"Der Traum der roten Kammer" beim Ballett Dortmund

Szene aus „Der Traum der roten Kammer“ von Xin Peng Wang beim Ballett Dortmund: Drei Nornen bestimmen die Schicksale der Menschen – hier sind sie zugleich chinesische Fleißarbeiterinnen. Videostill: Gisela Sonnenburg

Als Clou gibt es drei Nornen, die – als chinesische Fleißarbeiterinnen getarnt – einen Schicksalsfaden spinnen und vernähen.

Die Stimmungen, die hier erzeugt und transportiert sind, kommen so cineastisch rüber, als säße man im Kino.

Christian Baier wäre aber nicht Christian Baier, wenn er sich mit der Nacherzählung eines vorhandenen Stücks Literatur zufrieden geben würde. Und so fügte er auch Szenen aus der Kulturrevolution an, die wie ein zweites, kurzes Stück anmuten.

"Der Traum der roten Kammer" beim Ballett Dortmund

Die Mao-Bibel in der Hand, freuen sich die jungen Männer auf die neuen Zeiten… Das Ballett Dortmund tanzt mit großem Elan im „Traum der roten Kammer“ von Xin Peng Wang. Foto: Bettina Stöß

Mit rot leuchtender Bänderspule triumphiert darin eine Tänzerin mit raffinier-sportlicher Note. Gedichtbände sind durch die Mao-Bibel ersetzt, junge Männer winken mit ihr so hoffnungsfroh wie ahnungslos.

Und die Denunzierten müssen mit spitzen Papierhüten die Verachtung der Menge ertragen.

Aber noch ein weiteres Stück Ballett wird angefügt, ein Epilog wie aus der Jetztzeit: Hier ist Pao Yü ein Spätgeborener, der im zeitgenössischen China verarmt und obdachlos geworden ist.

"Der Traum der roten Kammer" beim Ballett Dortmund

Der Kirschbaum und die Liebende – in „Der Traum der roten Kammer“ von Xin Peng Wang gehören sie zusammen. Videostill: Gisela Sonnenburg

Der Kirschbaum, der einst so magisch den Tanz der Verliebten behütete, wird jetzt erbarmungslos gefällt – ohne, dass der darunter als Penner sitzende Pao Yü dagegen protestiert. Er hat sich in einem früheren Leben falsch entschieden und er entscheidet sich auch hier wieder falsch.

Die Atmosphäre wird immer melancholischer.

Trauer obsiegt – und den Untergang der Welt kann anscheinend nichts und niemand mehr aufhalten…

Für den vorzüglichen Bühnenausstatter Frank Fellmann und den genialen Choreografen Xin Peng Wang – der in Peking und in Essen studiert hat – sind der traurige Untergang, aber auch der dramatische Umsturz festliche Anlässe für künstlerische Großtaten.

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Mit effizient eingesetzten Mitteln zaubert Fellmann eine Stimmung wie im Kinofilm „Der letzte Kaiser“. Und Wang lässt seine Solisten und das Ensemble so konzentriert und lyrisch auftanzen, als handle es sich um Zeremonien aus einer fernen Traumwelt. Die Musik von Michael Nyman („Das Piano“) unterstützt diesen Eindruck.

Ein Höhepunkt ist das letzte Solo der liebenden Verschmähten, bevor sie stirbt: Zu kratzigen Violinentönen stakst Monica Fotescu-Uta im grünen Flattergewand über die blaulichterne Bühne – und scheint schon ein Geist zu sein. Unvergesslich.

Wer diesen Stream verpasst, ist wirklich selbst schuld. Ist doch „Der Traum der roten Kammer“ ganz sicher eines der besten Ballette, das in diesem Jahrhundert bisher kreiert worden ist.  
Gisela Sonnenburg

www.theaterdo.de

 

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