Wenn Aufklärung nach hinten abgeht Der TV-Sender arte hat selbst einen guten Schutz vor Missbrauch für seine Mitarbeiter – und sendet eine superverlogene Werbung für das Scottish Ballet unter dem Deckmantel der Aufklärung

arte zeigt "Tanz, Macht, Missbrauch"

Christopher Hampson vom Scottish Ballet überzeugt nicht wirklich: in „Tanz, Macht, Missbrauch“ auf arte. Videostill von arte.tv: Gisela Sonnenburg

Ausgerechnet Jiri Bubenicek! Auf ihn, der als Choreograf stets als Womanizer auftritt und der seine Gattin Nadina als unbegabteste Bühnenbildnerin aller Zeiten regelmäßig mitengagieren lässt, wenn er einen Vertrag unterschreibt, hat die Ballettwelt als Aufklärer bei sexueller Belästigung gerade noch gewartet. Er selbst hat das romantische Neuseeland-Thema „The Piano“ in frauenverachtender Weise mit einem Freitod am Ende versehen (statt mit einem Happy End für die Heldin und ihre Liebe, wie in der bezaubernden Film-Vorlage von Jane Campion). Aber arte macht es möglich: In einem drittklassigen Werbefilm für das ebenso drittklassige Scottish Ballet mit seinem stinklangweiligen Chefchoreografen Christopher Hampson dürfen Nieten wie Bubenicek voll aufdrehen. Unbewiesene Behauptungen, die von jedem, der sich auskennt, als lachhaft enttarnt werden können, halten hier zusammen mit Behauptungen im Falschbefehlston her, um ein Lügenmärchen zu erzählen. „Tanz, Macht und Missbrauch – Das Ende des Schweigens?“ ist morgen abend um 21.50 Uhr auf arte zu sehen, ebenso schon jetzt in der arte mediathek, aber man muss nicht gesehen haben, was da verzapft wird – es ist jammerschade, dass ein Sender wie arte zu dieser so wichtigen Thematik einen solchen Schund sendet.

So geht Aufklärung nach hinten ab.

Falsche Behauptungen finden sich schon in den kreischenden Füllsätzen der Doku. Da heißt es, Me, too habe „schnell“ auch die Tanzwelt erreicht. Das Gegenteil war aber der Fall.

Während in anderen Bereichen bereits viel darüber diskutiert wurde, versteckten sich die Tänzerinnen und Tänzer noch hinter ihren Ängsten vor Verlusten.

Die äußerst wichtige Initiative der New Yorker Starballerina Ashley Boulder von 2019, die öffentlich mit der Frage provozierte: „Warum können Frauen im Ballett nicht gleichgestellt sein?“, fehlt komplett in dem Billigfilmchen von arte. Wirklich beschäftigt haben sich die beiden Filmemacherinnen Lena Kupatz und Lena Schienke mit dem Thema nicht. Sonst könnten sie auch nicht bescheuerterweise behaupten, Tanz sei wegen seiner Körperlichkeit besonders anfällig für sexuelle Belästigung.

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Das Gegenteil ist der Fall. An den Universitäten, an denen angeblich der Geist und die Intelligenz regieren sollen, wird schon seit Jahrzehnten sehr heftig von Frauen gekämpft, um sexueller Diskriminierung – darunter auch Belästigung – zu entgehen oder sich dagegen zu wehren. Nicht von ungefähr haben die Unis schon seit über zehn Jahren Frauenbeauftragte, allerdings nicht nur in durchschlagender Weise.

In Körperbranchen wie dem Tanz gibt es hingegen immerhin ein professionell ausgeprägtes Verhältnis zum Körperkult, was den Opfern auch hilft, mit ungewollten sexuellen Attacken fertig zu werden. Aber davon weiß dieser Film nichts.

Weil er nie die echten Opfer zu Wort kommen lässt, sondern immer nur sensationsgeile Pseudoanwälte.

Eine Stuttgarter Choreografin, deren formalistische Arbeit mich auch schon genervt hat, weiß zum Thema nichts zu sagen, kommt aber ausgiebig zu Wort. Sie ist – oho – der Meinung, schon Jugendliche sollten sich selbst Regeln auferlegen. Solche hier mit wohligem Schauer ohne konkreten Kontext präsentierten Statements entlasten alle Erwachsenen, die eigentlich Verantwortung tragen müssten.

Auch die Tanzgeschichte wird mal eben verdreht, damit sie ins Bild passt. Immer dankbar für eine solche Aufgabe: Dorion Weickmann, die Marie Camargo, eine bedeutende Ballerina des Barock, ebenso wenig kennt wie Camargos Rivalin Marie Sallé. Oder hat sie einfach vergessen, was Ballett ausmacht und wie es sich entwickelt hat, weil das für dieses Filmchen nicht gepasst hätte? Wirklich schade. Wenn man Ballett schon als zu adlig und zu feudal denunzieren will, sollte man wenigstens die Fakten kennen und nennen.

Eine wissenschaftliche belgische Arbeit, die mit anonymen Erfahrungen arbeitet, die offenbar überhaupt nicht überprüft wurden, rundet das Bild der Lüge ab. Dass man als Tänzer nicht gut bezahlt wird, stimmt zum Beispiel in den meisten Fällen eines festen Engagements in der EU an einem staatlichen Theater überhaupt nicht mehr. Warum behauptet es die belgische junge Frau, die sich hier als Expertin geriert? Und warum hat das Drehbuch-Duo da nicht einmal gegenrecherchiert?

Bubenicek – der mal ein vorzüglicher Tänzer war – darf dann von mentaler Belästigung faseln, die beim ständigen Blick in den Ballettsaal-Spiegel entstünde. Noch was? Meint er, dass er sich selbst belästigt hat?

Moderierte Live-Streams von Proben vom Scottish Ballet sollen dann für neue Strukturen stehen. Aber was hat das denn bitte mit der Gender-Thematik oder mit Macht-Missbrauch zu tun? Es ist nur plumpe PR für die Schotten.

Sitzt und spricht gleichermaßen in Schieflage: Kritikerin Dorion Weickmann hat ganz vergessen, dass mit Marie Camargo und Marie Sallé zwei Frauen den Barocktanz prägten. Videostill von arte.tv: Gisela Sonnenburg

Helen Pickett, die jetzt als Choreografin arbeitet und früher bei William Forsythe tanzte, zeigt ebenfalls, dass sie schöpferisch recht einfallslos ist. Eine Predigerszene aus Arthur Millers aufregendem Drama Hexenjagd setzt sie so bieder um, als handle es sich um Gebete für Lassie.

Das ist nicht das gewohnte arte-Niveau und wirklich peinlich.

Völlig außer Acht gelassen wird im Film hingegen, wie heldenhaft Peter Martins vom New York City Ballet die in dem Fall falschen Anwürfe gegen ihn gehandhabt hat. Ganz lässig hat der geniale Senior erklärt, dass er ja auch gehen kann, wenn man ihn als Chef nicht mehr haben möchte. Er konnte sich das leisten. Und zog sich aufs Altenteil zurück, nicht ohne zu erklären, dass er selbstredend auch vor Jahren und Jahrzehnten niemanden belästigt hatte.

Die andere Seite der Medaille, die auch schlimm ist, wird in artes Filmchen ebenfalls nicht angesprochen: Weltweit bieten sich junge Tänzerinnen und Tänzer in der Meinung, die freie Liebe und die Regeln des Erfolgs würden das erlauben, in jeder Hinsicht den Chefs und Choreografen an, auch in sexueller.

Wer unternimmt mal was dagegen? Wer ächtet mal die Nutten statt immer nur die Freier?

Hier wird vor Publikum vorgelesen… echte Opfer-Interviews, wie sie etwas der Filmemacher Manfred Karremann tätigt, wenn er zu so brenzligen Themen filmt, bietet arte dieses Mal nicht. Videostill von arte.tv: Gisela Sonnenburg

Echte Opfer, die wirklich sexuell belästigt oder gar vergewaltigt wurden, sprechen hingegen nur sehr selten über ihre Erlebnisse. Sie haben kein Big Ego (mehr) wie Bubenicek und seine verlogenen Konsorten, die sich zum Fürsprecher für einen geldgierigen Freund machen, der zurecht die Dresdner Semperoper verlassen musste. Echte Opfer haben nicht das Bedürfnis, sich vor der Fernsehkamera wichtig zu machen oder ihre Kumpels und Geschäftsfreunde – in diesem Fall sogar die eigene Ehefrau – vorzuschicken, um von ihrer angeblichen Negativerfahrung zu plappern. Echte Opfer leiden. Und kämpfen. Und sie erfahren nur sehr selten Hilfe und Verständnis, geschweige denn Unterstützung.

Ich selbst habe mal einen Zeitungschef wegen sexueller Belästigung verklagt. Erfolgreich. Während des Verfahrens kam raus, dass schon meine Vorgängerin unter dem ungezügelten Verhalten des Mannes gelitten hat. Aber er hat seinen Job behalten, ich bin gegangen.

Und ich war kein Einzelfall. So endet es meistens, leider – und es ist noch viel Umdenken auch in den Medien selbst notwendig, um das zu ändern. Dann wird es wie von selbst mehr  Frauen in Führungspositionen geben. In den Medien und auch im Ballett.

„Mein“ Sexist im Dienst war übrigens auch nicht der Erste und nicht der Letzte seiner Art, der mir über den Weg lief und diesen zerstörte, soweit er konnte. Nicht wenige Frauen wurden und werden auf diese Weise abgedrängt und aus ihrem Beruf katapultiert.

Frauen und Männer, die gern einfach mal die Beine breit machen für die Karriere, werden hingegen stillschweigend bevorzugt. Wem ist diese Erkenntnis wirklich neu?! Aber wann wird dieses Kartell des Schweigens gebrochen?

Affären als Steigbügel für die Karriere, Neinsagen als Anlass für den Rauswurf durch sexistische Chefs oder Kollegen – diese Realität wird immer noch viel zu oft ignoriert.

Meistens merken Männer – wenn sie Täter sind – auch noch nicht mal, was sie da eigentlich machen. Sie sind so sehr von sich selbst überzeugt, dass sie jede Lüge gelten lassen, wenn sie ihnen nützt und ihrem Opfer schadet.

Das Scottish Ballet darf vor der Fernsehkamera proben – ein logischer Bezug zum Thema ergibt sich damit nicht. Videostill von arte.tv: Gisela Sonnenburg

Bei arte im Sender, hinter den Kulissen, hat die sexuelle Aufklärung dank Me, too immerhin etwas bewirkt. Darüber würde man gern mal einen Film sehen (statt dieses unsäglichen Machwerks über Bubenicek und Hampson).

Man hat bei arte nämlich eine Referentin für sexuelle Belästigung und Sexismus am Arbeitsplatz und umfangreiches weiteres Personal, das sich mit Vorfällen gegebenenfalls beschäftigen soll.

Und es gibt bei arte tatsächlich auch eine Anlaufstelle für Hinweisgeber, die streng vertraulich arbeiten. Das ist sehr fortschrittlich. Chapeau!

Das ist keine Denunziation, sondern korrekte Aufarbeitung, die Opfer wirklich schützen kann.

Filme mit Bubenicek zu dem Thema möchte ich mir aber nicht mehr ansehen müssen.

P.S. Kleiner Tipp: Der preisgekrönte Filmemacher Manfred Karremann sollte unbedingt gebeten werden, sich des Themas anzunehmen. Er hat über Kindesmissbrauch und Tierquälereiverbrechen eindringliche Fernsehdokumentationen geschaffen – etwa hier.
Gisela Sonnenburg

www.arte.tv

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