„Hallo, Brüderchen…“ Arte weiß mal wieder mehr: „Die Akte Tschaikowsky – Bekenntnisse eines Komponisten“ belegt Tschaikowskis Homosexualität

Ralf Pfleger meint es gut mit Tschaikowskis schwulen Fans.

Ein etwas anderer Tschaikowski wird uns hier vorgestellt – Ralf Pfleger sieht ihn ganz heutig, vielleicht sogar ein bisschen romantischer, als der Kmponist tatsächlich war… Foto: Videostill / arte

Ein junger Mann mit dickem Lidstrich um die Augen sitzt mit Schlafzimmerblick im Morgengrauen auf der Bettkante. Die mit Metallstacheln gespickte Lederjacke ist schon halb angezogen, der junge Mann hängt offenbar der vergangenen Liebesnacht nach – und singt einen traurigen Popsong mit Tschaikowski-Harmonien. Wahrheit oder Fiktion? Diese Szene ist sicherlich Fiktion und hat mit dem Leben von Peter I. Tschaikowski so ganz direkt eher gar nichts zu tun. Aber gerade das ist der Reiz dieses Films von Ralf Pleger. Der preisgekrönte Filmemacher hat schon Dokus über Simone Young, die scheidende Intendantin der Hamburgischen Staatsoper, sowie den Aufsehen erregenden Beinahe-Thriller „Wagnerwahn“ gedreht. Jetzt hat er sich „Die Akte Tschaikowsky“ vorgenommen und verrät im Untertitel, was er enthüllt: „Bekenntnisse eines Komponisten“. Denn Pjotr war schwul, und wer das noch immer nicht wahrhaben will, der wird hier ziemlich drastisch eines Besseren gelehrt.

Basierend auf Tagebüchern und Briefen des 1840 geborenen russischen Komponisten Peter I. Tschaikowski hat Pleger mit  Monologtexten des romantischen Kompositeurs einen unterhaltsamen Film gedreht. Der ist vor allem eins: konsequent aus Schwulensicht. Und auch, wenn die Brieftexte möglicherweise nicht ganz authentisch sind (Skepsis ist bei Briefen und Tagebüchern spätestens seit Konrad Kujau immer angebracht): Sie sind inhaltlich stimmig und fokussiert, sie wirken wie eine gekonnte Drehbuchfantasie aufs scharfe Schwulenleben in den Metropolen des nicht eben unsinnlichen 19. Jahrhunderts.

Ralf Pfleger meint es gut mit Tschaikowskis schwulen Fans.

Ein Glas steht bereit, das Telefon läutet – Tschaikowsi geht ran und erählt, ganz offenherzig, von seinen Liebschaften. Eine nette Fantasie – von Ralf Pfleger in seinem Film „Die Akte Tschaikowsky“, der auf arte läuft. Foto. Videostill / arte

So erklärt eine Tschaikowski-Stimme aus dem Off im schwelgerischen Tonfall seine nächtlichen Liebesmanöver – ganz so, als hätte er keine Briefe mit seinem ebenfalls homosexuellen Bruder Modest gewechselt, sondern vertrauensvoll mit ihm telefoniert.

Pikant ist nicht nur die Chose an sich; der Film verzichtet auch auf historische Klamotten sowie auf diese typischen, nachgestellten Szenen, die in Dokumentationen oft von Kommentaren aus dem Off begleitet sind. Statt dessen gibt es hier vor allem eins: Jungs wie aus der Schwulenszene von heute zu sehen. Oh, Fantasie, da haste dir aber ein neues Terrain erobert – nämlich das des Biopic!

Als wäre Tschaikowski ein Musiker irgendwann in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts gewesen – oder auch einer von heute, der ungehemmt seiner Nostalgieader frönt. Da steht denn auch mal verlockend ein Glas Weinbrand bereit, der Aschenbecher quillt über, und via Ferngespräch offenbart Tschaikowski sich ganz ohne Scham: „Hallo Brüderchen! Nein, ich habe nichts getrunken. Stell dir vor, ich habe jemanden getroffen… er ist mittelgroß, blond…“ Wer hätte nicht gern eine solche Klatschbase als schwule Betschwester oder auch zur besten Freundin?

Ralf Pfleger meint es gut mit schwulen Tschaikowski-Fans.

Er ist zwei Ichs in einer Künstlerbrust: Vladimir Malakhov in der Titelrolle „Tschaikowsky“ im Ballett von Boris Eifman und Wieslaw Dudek als sein Alter Ego – auszugsweise zu sehen in Ralf Pflegers Komponistenfilm. Foto: Videostill / arte

Und im Kern ist die Sache sicher auch tröstlich: Pjotr und Modest hielten zusammen wie Pech und Schwefel, stützten sich gegenseitig, entgegen allen Risiken und Ächtungen, denen Schwule im 19. Jahrhundert ausgesetzt waren. Im Grunde hatten sie miteinander Glück, denn um sich auszusprechen, war ihre Verwandtschaft optimal.

Hinter dem hehren, edlen Komponisten steckte also auch nur ein Mann. Wen wundert’s! Bestimmte Städte hat der Komponist von „Schwanensee“, „Dornröschen“ und „Der Nussknacker“ denn auch allein schon aus Gründen der Erotik bevorzugt: Paris, Florenz und Berlin galten im 19. Jahrhundert als Schwulenhochburgen. Und Tschaikowski war kein Kostverächter.

Einmal bekennt er hier im Film sogar, in eine Art Bordell für Männer wie ihn gegangen zu sein. Und eine frivole Schar von Bewunderern, die ihn in Sankt Petersburg umschwärmt, nennt er glatt seine „Konkubinen“, die ihm „unersetzlich wie Klopapier“ geworden seien. Hups! Etwas derb ist der Ton hier schon, aber das machen eingestreute seriöse Interviews mit Experten wieder wett.

Ralf Pfleger meint es gut mit schwulen Tschaikowski-Fans.

Das doppelte Ich – im Ballett von Boris Eifman spielt es eine große Rolle. Auch im Film „Die Akte Tschaikowsky“ von Ralf Pfleger. Foto: Videostill / arte

Eine Musikwissenschaftlerin erklärt da, wie es Tschaikowski aus dessen Sicht erging. Einer seiner Biografen ergänzt das. Und der populäre Orgelvirtuose Cameron Carpenter, selbst bekennender Homo, erläutert mit tragisch ernster Miene, dass man das Schwulsein des Komponisten Tschaikowskis Musik nicht anhören würde. Was fehlt, ist eine Analyse des einen oder anderen Stücks von Tschaikowski – knallhart klassisch musikalisch ist der Film gerade nicht.

Vladimir Malakhov, ehemaliger Intendant vom Staatsballett Berlin, lümmelt hingegen leger auf dem Sofa und berichtet von seinen persönlichen Erfahrungen mit Schwulenhass im modernen Russland: Er wurde vor einigen Jahren an der Haustür abgepasst und schlimm misshandelt. Auch aus dem aktuellen Russland sind Übergriffe bekannt; zudem erschwert ein von Putin erlassenes Gesetz das Zeigen von homosexuellen Neigungen: Wer etwa öffentlich schwul oder lesbisch schmust, läuft Gefahr, ins Gefängnis zu wandern.

Im 19. Jahrhundert war das nicht anders. Homosexualität war verboten und wurde gerichtlich geahndet. Man konnte bis nach Sibirien verbannt werden, nur weil man eine andere sexuelle Ausrichtung hatte als in der Bibel und von der patriarchalen Gesellschaft erwünscht. Tschaikowski musste also, wie alle Schwulen damals, vorsichtig sein und heimlich vorgehen, um zu sexueller Lust zu finden. Unter der Hand war das schwule Leben offenbar gut organisiert – wo ein wildes Triebleben ist, da ist halt meist auch ein Weg.

Zur Tarnung und auch zur Aufbesserung seiner Finanzen guckte sich der so gar nicht brave Pjotr (der sich in Briefen an Modest einen Mädchennamen gab) dennoch eine Frau zum Heiraten aus. Weder sie noch er selbst waren um die Eheschließung zu beneiden.

Ralf Pfleger meint es gut mit schwulen Tschaikowski-Fans.

Die Hochzeit als psychische Folter: Tschaikowski begab sich in eine Pro-Forma-Ehe, die ihm neben gesellschaftlichem Ansehen und einem gewissen Reichtum auch großes Unglück bescherte. Foto: Videostill / arte

„Dass ich in Kürze heiraten werde, macht mir schwer zu schaffen“, vertraut Tschaikowski im Film denn auch schon im Vorfeld der Ehe seinem Bruder an. Als „endlose moralische Folter“ bezeichnet er seine Hochzeitsnacht. Und weil er „so schlecht gelaunt war“, unterließ er dann auch noch wirklich jeden Schritt in Richtung Entjungferung seiner frisch Angetrauten in der Hochzeitsnacht. Er berichtet davon nicht gerade glücklich. Später wurde die Ehe kaum besser. Diese Frau sei beschränkt, meinte der Komponist, und er litt unter ihrer Geschwätzigkeit und Dominanz.

Dass Tschaikowski einst den Plan fasste, sich mit einer Infektion das Leben zu nehmen (um nicht als Selbstmörder dazustehen), überrascht nicht mal. Ob sein Tod (vermutlich an der Cholera) 1893 damit zu tun hat, ist allerdings nie geklärt worden.

Gegen so traurige zu vermutende Zusammenhänge setzt Ralf Plegers Doku sexy Bildchen wie aus einem Schwulenparadies der munteren Jetztzeit: süße Jungs unter der Dusche, am Pool, auf der Bettdecke… und der eingangs beschriebene Bengel mit Lederjacke und Lidstrich, der seinen Popsong mault (der übrigens auf der Grundlage einer Tschaikowski-Komposition entstand)… schwule Romantik hat schon was, und wer wüsste das besser als die Fans von Tschaikowskis opulenten, aufgedrehten, durchaus auch mal hysterischen Klangwelten!

Am schönsten aber sind die Ausschnitte aus Boris Eifmans Ballett „Tschaikowsky“, in dem Vladimir Malakhov und Wieslaw Dudek tanzen. 2006 premierte das Stück in Berlin, und eine der Abschiedsvorstellungen vom Berliner Staatsballett im Sommer 2014 gehörte „Vladi“ Malakhov in der Titelrolle. Er war phänomenal, und ich bin mir sicher, dass niemand, der in der Vorstellung war, sie jemals wird vergessen können.

Ralf Pfleger meint es gut mit Tschaikowskis schwulen Fans.

Zwei Männer, die auch eine Seele sein könnten – in Boris Eifmans Ballett „Tschaikowsky“ beim Staatsballett Berlin. Hier ein Auszug aus dem Film von Ralf Pfleger. Foto: Viedostill / arte

Plegers Film, der insgesamt ziemlich provoziert, verströmt mit diesen Ballettpassagen aber auch Glanz – und da verzeiht man gerne, dass die Person Tschaikowskis eigentlich ein Stück weit auch ein historisches und darum nicht nur ein flippig-modernes Thema ist. Doch, es ist ein mutiger Film!
Gisela Sonnenburg

Am Mittwoch, 3. Juni, um 22.05 Uhr auf arte (53 Minuten lang – und danach eine Woche lang im Internet auf arte+7)

www.arte.tv

 

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