Kunstgenie und Frauenheld „Looking for Picasso“ auf arte+7 lohnt mehrfache Ansicht: Die umfassende Doku zeigt sogar die tänzerische Seite des bildenden Künstlers

Picasso beim Malen

Picasso malt live vor der Kamera, auf Glas, mit Durchsicht – mal eine Ziege, mal eine nackte Frau. Foto: arte

Er war ein Titan der bildenden Kunst, setzte im 20. Jahrhundert malerische Maßstäbe wie sonst keiner – und seine erste Ehefrau war Tänzerin. Das ist eine Kurzbeschreibung von Pablo Picasso, die dem außergewöhnlichen Doku-Portrait „Looking for Picasso“ allerdings nicht ganz gerecht wird. Noch nie habe ich einen Maler, Bildhauer oder Fotografen so detailliert, so pointiert und auch so sinnfällig vorgestellt gesehen: Obwohl oder gerade weil das öffentliche Bild von Picasso hier keine Kompromisse mit der üblichen Imagepolitur eingeht.

Denn Picasso reüssierte nicht nur als Künstler, sondern auch als Liebhaber, der sich keinesfalls an Konventionen der Eheschließungen oder sonst gefestigten Bindungen hielt. Wie nebenbei erprobte der ansonsten ganz seiner Kunst lebende Mann ein Modell der Polygamie ohne Trauschein (oder nur mit jeweils einem), das den Patchwork-Verhältnissen heutiger Tage zum Verwechseln ähnelt. Allerdings ohne das Heucheln oder Vortäuschen von Treue. Dafür erlaubte sich Picasso das zeitgleiche Ausleben mehrerer Beziehungen, die er mit Verbindlichkeit erfüllte und für die er auch die Verantwortung übernahm. Picasso als Pionier der frivolen, sexuell befreiten Lebensart – das ist wohl noch nie so deutlich wie in diesem Film gezeigt worden.

Der in Frankreich bekannte Dokumentarfilmer Hugues Nancy erzählt, beginnend mit der Beerdigung Picassos 1973 und unter Hinweisen auf die erst am 26.10.14 erfolgte Neueröffnung des Picasso-Museums in Paris, in Rückblicken Picassos Leben. 1881 in Malaga geboren, zeigt das Kind Pablo bereits ganz früh ein ganz großes Talent – und ein nicht geringes Selbstbewusstsein. „Besser als Rafael“ sei er, so rühmt er sich selbst im zarten Alter von 14 Jahren. Sein Vater ist seiner Meinung und organisiert eine Ausbildung; die beiden überwerfen sich jedoch, als der erst 17-jährige Picasso in Barcelona die Boheme und die Bordelle entdeckt. Er geht nach Paris – der Rest ist Kunstgeschichte.

Pablo Picasso revolutionierte die Kunst gleich mehrere Male

Pablo Picasso als junger Mann in Paris – der Rest ist Kunstgeschichte. Foto: arte

Er schließt Freundschaften mit Dichtern und Intellektuellen wie Max Jacob und Guillaume Apollinaire. Der Selbstmord eines impotenten Freundes löst die zweijährige „Blaue Periode“ in Picassos Schaffen aus. Erst die Verliebtheit in ein Mädchen namens Madeleine, die ihn indes nicht will, bringt den jungen Mann dazu, alles rosa zu sehen bzw. zu malen: Zeitgleich führt ihn die „Rosa Periode“ in die Zirkus-Atmosphäre, und er malt sich selbst als dünnen Harlekin, mit der begehrten Madeleine als Frauchen mit Kind an seiner Seite. Malerei als Wunschtraumerfüllung.

Die nächste Frau in Picassos Leben wird dann Muse und Geliebte zugleich, sie übernachtet in seinem Atelier und teilt Mängel wie Vorteile des durchaus klischeeträchtig verlodderten Künstlerdaseins. Picasso übermalt damals sogar manchmal seine Bilder, weil er kein Geld für neue Leiwände hat. Für Opium hingegen schon. Später wird sich herausstellen, dass er auch aus dieser Phase seines Schaffens selbst Bilder aufbewahrte, sein Nachlass barg nicht nur Tausende von öffentlich nie erwähnten Werken, sondern auch eine veritable Sammlung von Picasso durch Picasso.

Die Vor- und Rückblenden machen den Film lebendig, lassen auch die Juristen und Wissenschaftler mit ihren Statements nicht trocken oder langweilig erscheinen. So erklären Zeitzeugen und Experten aus Frankreich, Spanien, den USA Leben und Wirken des Malergotts. Den plagen allerdings nach Besuch einer großen Pariser Ingres-Ausstellung heftige Zweifel am eigenen Wert. Er geht zurück nach Barcelona – und kreiert, wieder mal von Huren inspiriert, den Kubismus. Dessen weltbewegende Wirkung trat dann erst langsam, Jahr für Jahr, in Erscheinung.

Außerdem reist Picasso jetzt viel – und verliebt sich im Februar 1917 in Rom: in die blutjunge Tänzerin Olga Khokhlova.

Olga, die Schöne, war Picassos erste Gattin.

In die Tänzerin Olga Khoklova verliebte sich Picasso nach einer überwundenen Sinnkrise in Rom. Foto: arte

Sie tanzt bei den Ballets Russes, die gerade in Italien gastieren. Die Laison führt flugs zu einer Kooperation Picassos mit Serge Diaghilev, dem Impresario der Ballets Russes. Picasso tingelt mit der Truppe durch halb Italien – und kreiert im Mai 1917 das Bühnenbild, die Kostüme und den Theatervorhang für die Premiere von „Parade“ in Paris. Diese Uraufführung ist zugleich ein Skandal und legendärer Erfolg – und Picassos Freund Apollinaire erfindet im Programmheft von „Parade“ einen Begriff, der bald historisch sein wird: „sur réalisme“ – Surrealismus.

Bühnentier Pablo Picasso?

Der Maler Pablo Picasso schuf 1917 für das Ballett „Parade“ bei den Ballets Russes in Paris den Theatervorhang und das Bühnenbild. Foto: arte

Ein Jahr später heiraten Olga und Picasso, sie verließ dafür das Ballett. Sie war schön, nicht nur mit Formen, sondern vor allem mit Farben: Sie hatte kräftiges Haar, einen Porzellan-Teint und eine vor Lebenslust sprühende Ausstrahlung. Aber sie spielte auch gern die Madame, zumal als der Reichtum das junge Paar aller materieller Sorgen enthob. Der Pariser Galerist Paul Rosenberg kaufte von Picasso, was er nur kriegen konnte – und verdealte es vor allem in den USA.

Picasso beim Malen, beim Reden, beim Spazierengehen, beim Spielen mit einem seiner – zumeist unehelichen – Kinder und beim Rauchen. Die Doku taucht tief ein in das Universum des Pablo Picasso, zeigt dessen Erlebniswelt quasi aus malerischer und persönlicher Perspektive.

Allerdings: Manche kunstgeschichtlichen Details fehlen, etwa die Zusammenarbeit mit Georges Braques. So entsteht der Kubismus als epochale Strömung ja nicht über Nacht und nicht nur mit einem Bild allein. Sondern das großformatige Gemälde „Die Demoiselles von Avignon“, das später und auch im Film als „erstes kubistisches Werk“ gefeiert wird, fertigte Picasso bereits 1907 in Barcelona. Damals lernte Braques, über Apollinaire, Picasso kennen. Die Entwicklung und Ausreifung des Kubismus erstreckte sich dann aber über Jahre und hatte ihr Zentrum in Paris. Braques Anteil daran verschweigt der Film.

Auch der Galerist Daniel-Henry Kahnweiler taucht im Film nicht auf – man muss mutmaßen, ob aus Knappheit der Sendezeit oder ob aus Problemen bei der Recherche. Nun sind diese beiden Auslassungen aber insofern nicht schlimm, als man das Verhältnis Braque-Picasso und auch die Rolle Kahnweilers im damaligen Paris bereits seit langem nachlesen kann – sie sind altbekannte Facts und im Hinblick auf den hier gesetzten Schwerpunkt, der Picasso als Mann und Frauenliebhaber zeigt, sowieso völlig egal.

FRAUEN – DAS GROSSE PLUS DER DOKU

Diese Film-Doku hat ein ganz großes Plus: Hugues Nancy, der Autor, stellt nicht nur Picassos Frauen als Auflistung von Sexobjekten dar, sondern rückt die psychologisch-sexuelle Entwicklung Picassos in den Vordergrund – und trifft damit mitten ins Herz der Kunstgeschichte. Denn die Liebe zu den Frauen war tatsächlich eindeutig die Antriebsfeder für die Entstehung all jener künstlerischen Stile, die das ästhetische Empfinden der frühen Moderne maßgeblich – und wohl sogar am maßgeblichsten – beeinflussten. Wenn es einen Künstler in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gab, der bedeutend war, dann war es Picasso.

Die Tänzerin Olga hat daran vermutlich nur als Muse und Geliebte Anteil. Aber dass sie als Tänzerin ein entsprechendes Fluidum verströmte, war womöglich kein Zufall. Sogar Pablo Picasso entpuppt sich bei Filmaufnahmen, die ihn malend zeigen, als Tänzer mit der Palette in der Hand. Eine seiner Geliebten beschreibt denn auch, aus der Erinnerung heraus, seinen Anblick bei der Arbeit als „tänzerisch“.

Olga Khoklova kann ihn trotz dieser womöglichen Seelenverwandtschaft nicht halten. Picasso legt sich bald eine damals noch minderjährige Geliebte zu, die er unendlich oft malt und zeichnet und die er, stärker als Olga noch, in seine neue Phase der gemalten massigen Leiber überträgt. Als Marie-Thérèse Walter, mittlerweile volljährig, auch noch schwanger wird – für Pablo Picasso ein erfreulicher Beweis seiner Potenz – will er von Olga die Scheidung.

Olga erhält, um darin zu leben, die wichtigste Immobilie aus Picassos Vermögen – und kann aber die Scheidung abwehren, weil der Faschist Franco in Spanien und für alle Spanier geltend die Möglichkeiten zivilrechtlicher Ehescheidung abgeschafft hatte. So bleibt die ehemalige Ensembletänzerin lebenslang Madame Picasso – wenn auch einsam und ohne den Mann, für den sie ihren Beruf aufgegeben hatte.

Aber auch Olgas Konkurrentin Marie-Thérèse erhält nach einigen Jahren der heftigen Liebschaft ernstzunehmende Konkurrenz: Das neue „Opfer“ des „Minotaurus“ Picasso ist Dora Maar, eine 30-jährige Intellektuelle argentinischer Abstammung. Die Gemälde von ihr, oft Angst, Panik und Schmerz darstellend, bezeichnen den Höhepunkt der Picasso’schen Kunst, ergänzen Werke wie „Guernica“, die zu den „absoluten“ Gemälden Picassos zählen.

Dora Maar, in einer von Picassos Ansichten

Mit der thematisch in Picassos Werk oft schmerzbehafteten Intellektuellen Dora Maar hatte Picasso sozusagen eine Zweitfrau ohne Eheschein – oder auch Drittfrau, denn die blonde Marie-Thérèse gab er nicht für die brünette Dora auf. Foto: arte

Maar leidet stark, als Picasso sie, nach einer intensiv gelebten Leidenschaft, verlässt. Wie schon seiner ersten Frau Olga überlässt Picasso Dora zwar eine Immobilie als eine Art „Abfindung“ – doch sie verfällt in sehr schwere Depressionen. Lebenslang, so scheint es, lieben „seine“ Frauen das Kunstgenie, das somit eine einzigartige Wirkung nicht nur in der Malerei, sondern auch in der Liebe entfaltet. Als Marie-Thérèse sich vier Jahre nach Picassos Tod umbringt, nennt sie als Begründung, dass ein Leben ohne ihn keinen Sinn mehr mache.

Erst als Olga verstirbt, kann Picasso wieder heiraten, und seine zweite Frau Jacqueline Roque ist es, die für seinen Nachlass und die damit verbundenen Inventur verantwortlich wird. Sie kümmert sich gut um den gealterten Macho, hegt und pflegt ihn, schirmt ihn von allem ab, was seinen Lebensgeist trüben könnte. Noch als 90-Jähriger wirkt Picasso vor der Kamera agil, erklärt, raucht, malt und malt und malt – und bunkert Tausende von Werken, unter anderem etliche Skulpturen, in seinem Haus. Ob all diese Nachlass-Werke echt sind, wurde nie weiter untersucht. Aber die Schnelligkeit, mit der Picasso, der von seiner Kunst besessen war wie von einer Obsession, kreiert hat, macht es wahrscheinlich, dass er ein so großes Werk nicht nur an Zeichnungen und Keramikvasen, sondern auch an aufwändigen Gemälden hinterließ.

Die Angst, dass ein Zuviel an Picasso auf dem Kunstmarkt seinen Preis drücken würde, war nach seinem Tod im April 1973 unnötig. Aber: Die drei unehelichen Kinder Picassos mussten sich ihren Teil gerichtlich einholen, denn freiwillig gab Jacqueline Picasso ihnen davon nichts und sperrte sie auch von der klammheimlich vollzogenen Bestattung aus. Damit sind wir wieder beim Anfang des Films: ein zweites und drittes Sehen lohnen wirklich, und es dürfte sich sogar Picasso-Kennern jedes Mal noch eine neue Facette erschließen. Well done, Monsieur Nancy!

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