Das traurige Tanzjahrhundert In Berlin-Tiergarten feiert die Akademie der Künste „Das Jahrhundert des Tanzes“ – aber das Projekt ist eine Mogelpackung. Skurriles und Sehenswertes findet sich dennoch

Auch Röntgenologen finden was Spezielles in der Ausstellung „Das Jahrhundert des Tanzes“ in der Akademie der Künste im Hanseatenweg in Berlin-Tiergarten: das demolierte Knie der Tänzerin und Choreografin Dore Hoyer als Röntgenaufnahme. Foto: Gisela Sonnenburg

Es hat unfreiwillig Symbolgehalt, dass das demolierte Knie der tragischen Tanzkoryphäe Dore Hoyer hier als Röntgenbild präsent und solchermaßen ein Ausstellungsstück ist: Die Exposition „Das Jahrhundert des Tanzes“ in der altehrwürdigen Akademie der Künste (AdK) in Berlin-Tiergarten traut sich nicht so richtig vor und zurück, sie tritt auf der Stelle und bleibt auch im Großen minimalistisch. Sie feiert weniger den Fortschritt, als dass sie in strengen und melancholischen Bildern rührselig Abschied vom Vergangenen nimmt. Die Moderne bedeutet hier faktisch keine Entfesselung oder hymnische Freude ans Neue, sondern eine zaghafte Erneuerung, die vor allem aus Reduktion, also aus Verzicht, besteht. Mary Wigman, Rudolf von Laban, Gret Palucca, Valeska Gert – das sind hier die zentralen Künstlernamen aus dem 20. Jahrhundert, denen weitere zur Seite gestellt werden. Trotz hoch interessanter Einzelstücke handelt es sich insgesamt um eine geschickt gemachte Mogelpackung. So suggeriert der Titel weltumspannende Internationalität. Doch dann geht es vor Ort nur um Tanzkunst, die aus Deutschland oder von deutschstämmigen Künstlern stammt. Ballett spielt dabei eine untergeordnete Rolle. Immerhin: So eine Retrospektive könnte man sich auch viel größer und natürlich ballettfreundlicher angelegt vorstellen, diese Anregung gibt „Das Jahrhundert des Tanzes“ allemal. In der AdK allerdings darf sie gerade mal einen Raum für sich beanspruchen – und der ist viel zu klein.

Man hat derweil ästhetisch und historisch faszinierende Fundstücke aus den verschiedenen Tanz-Archiven zusammengetragen, um punktuell einen Abriss der „revolutionär“ genannten Bühnentanzentwicklungen in Deutschland im 20. Jahrhundert zu geben.

Das Ausland bleibt allerdings, bis auf überwiegend in Deutschland wirkende Künstler, außen vor. Eine Entwicklung wird auch nicht aufgezeigt, weder chronologisch noch stilistisch – es bleibt beim Anhäufen als Sammlungsprinzip.

Weil zudem stumme Exponate (etwa Tanzmasken und Fotografien) gemeinsam mit lärmenden Videoprojektionen auf engem Raum versammelt sind, empfiehlt es sich unbedingt, Ohrstöpsel mitzunehmen!

Denn gerade die kleineren, feinen Exponate lohnen es, dass man sich ihnen in aller Ruhe widmet und sich in ihren Anblick  kontemplativ versenkt. Das wird von den lauten Tanzmusiken, die von den laufenden Großbildvideos rühren, indes stark erschwert.

Allen voran sind die Masken berühmter Ausdruckstänzerinnen jeweilig ein Blickfang. Sie sind hell leuchtend in Vitrinen platziert, um die herum kontrastierend das schummrige Dunkel herrscht.

Mit dieser Maske tanzte Arila Siegert den Tanz „Die Maske“ in ihrem Soloabend „Gesichte“, das war 1985. Angefertigt wurde die Maske von Wolfgang Krause. Sie ist eine Leihgabe von Arila Siegert an die Ausstellung – und das schönste Stück hier! Foto: Gisela Sonnenburg

Handwerklich und künstlerisch am stärksten: Die „Gesichte“-Maske von Arila Siegert. Sie entführt in eine Ära der Expressivität, der Begeisterung für andere Kulturen auf hohem Niveau.

Die Maske ist zudem den Gesichtszügen der Siegert nachempfunden: volle Lippen, schmale Augen, hohe Brauen. Rot leuchtet der Mund – und man kann sich gut vorstellen, wie sich die Tänzerin mit der Maske zugleich zeigte und verstecken konnte.

Die 1953 in Rabenau bei Dresden geborene Arila Siegert – die in letzter Zeit vor allem als Opernregisseurin tätig war – tanzte aber außerdem den legendären „Hexentanz“, der ursprünglich von Mary Wigman stammt, mit Verve und wirklich hoher Intensität.

Wigman hat das Solostück in seiner ersten Version schon vor 1917 aufgeführt, es ist aber in seiner zweiten Version von 1926 aufführungsfertig erhalten. In der Ausstellung gibt es ein Foto von Wigman in dieser Paraderolle.

Wer Siegert mit diesem Sitztanz mal live sah – die unheimlich-faszinierende Hexe aus dem Titel zaubert im Sitzen am Boden, ihre Beine wie Vehikel einer bösen Macht stampfend benutzend – wird das nie vergessen können.

Weitere Masken bezeugen die Liebe der frühen Moderne zum asiatischen Stil, zum passioniert Stilisierten, zu allem, was streng und sanft zugleich anmutet.

In einemFoto-Leoporello glänzt Gret Palucca: aus Portraits von ihr entfaltet sich ein  Bilderfächer.

Drei Bücher liegen in der Ausstellung unter Glas, darunter die streitbare Tanzschrift „Der Tanz der Zukunft (The Dance of the Future)“ von Isadora Duncan (li.). Sie wirkt indes etwas kopflos auf dem Cover. Foto: Gisela Sonnenburg

Von Isadora Duncan– die immerhin zeitweise eine bemerkenswerte Tanzschule in Berlin-Grunewald leitete – würde man gern mehr sehen als nur die deutsch-englische Erstausgabe ihrer Schrift „Der Tanz der Zukunft (The Dance of the Future)“ in Buchform.

Rudolf Laban und Johann Kresnik sind zwar präsent, aber Gerhard Bohner, der tanzgeschichtlich längst nicht so bedeutend ist, erscheint dagegen fast übermächtig.

Noch mehr Aufmerksamkeit gilt Oskar Schlemmer, der indes als bildender Künstler und Gelegenheitstänzer lediglich „Das Triadische Ballett“ mitgeschöpft hat und somit zwar einen Stellenwert im experimentellen Tanz hat, der keineswegs aber als jemand gelten kann, der den Bühnentanz an sich nachhaltig beeinflusste oder weiterentwickelte.

Filmische Dokumentationen belegen aber, dass „Das Triadische Ballett“ in den historischen Schwarz-weiß-Aufnahmen recht anmutig und niedlich einherkam – und gar nicht so wuchtig und plump wie in der späteren Rekonstruktion von Gerhard Bohner, die zu allem Übel ja auch noch mit Jazz-Musik der 70er-Jahre bestückt wurde.

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Harald Kreutzberg und Kurt Joos, die beiden großen Herren des Ausdruckstanzes, sind auch da, und ich darf anmerken, dass Joos als Entdecker und Förderer von Pina Bausch gelten muss, die er an der Folkwang-Schule in Essen unterrichtete. Leider gibt es zu Bausch nur einen Videoausschnitt in dieser Ausstellung, der nicht immer läuft – und vielleicht ist das doch ein bisschen zu wenig, wenn man sich in einer Schau, wie hier, auf die zeitgenössische Bühnentanzentwicklung in Deutschland im 20. Jahrhundert konzentriert.

Es ist halt eine Tendenz-Ausstellung, mit nicht immer nachvollziehbaren Schwerpunkten und Lücken.

Die Ballett-Leute werden denn auch gleich ganz „untergebuttert“ und lediglich mit Kleinigkeiten eingebracht; Ballett wirkt in dieser Ausstellung wie ein notwendiges Übel, wie ein Anhängsel, das man eigentlich gar nicht dabei haben möchte.

Dieses Foto gibt es nicht in der Ausstellung, es stammt von 2013 vom Hamburg Ballett und zeigt den „Sommernachtstraum“ von John Neumeier: Thiago Bordin als Oberon mit der Zauberblume und Konstantin Tselikov als sein chaotischer Gehilfe Puck. Was für expressive Farben! Foto: Holger Badekow

So gibt es zwar eine Fotoprojektion aus dem Jahrhundertballett „Ein Sommernachtstraum“ von John Neumeier, aber sie stammt im nostalgischen Layout aus den 70er-Jahren und lässt vermuten, das Werk sei in Schwarz-weiß ganz passend abgelichtet. Was bei der expressiven Farbstärke, die Licht und Kostüme im „Sommernachtstraum“ abgeben, natürlich gar nicht stimmig ist.

Bedenkt man zudem, dass nicht nur dieses Werk von Neumeier weltberühmt ist und es wie viele andere schon in etlichen Hauptstädten Europas und anderer Kontinente aufgeführt wurde, wirkt es irgendwie völlig schräg, wenn der Ballett-Tycoon Neumeier nur mit so einem Foto präsent ist, während vergleichsweise unbekannte Künstler wie Dominique Bagouet und  Édouard Lock, Maguy Marin und Hwai-min Lin mit Videoprojektionen vertreten sind.

So eine Gleichmacherei hilft niemandem, zumal die Ausstellung auch nichts wirklich erklärt. Sie stellt nur aus, ohne Zusammenhänge zwischen den einzelnen Exponaten zu schaffen.

Eine Entwicklung wird in der Ausstellung sowieso nicht aufgezeigt, weder chronologisch noch stilistisch. Das ist ein großer Makel, womöglich ist er auch von der Raumenge bedingt.

Der dazugehörige Katalog hatimmerhin eine Systematik, er geht alphabetisch vor: Es handelt sich um ein praktisches Handbuch, das Choreografen und andere Tanzkünstler mit Statements ihrer selbst vorstellt.

Lobenswerterweise ist es in großen Lettern gedruckt, ältere Leute brauchen hier also keine Lupe!

Oft muten die Beiträge auch wie gekonnte Ergänzungen zu dem an, was zum Beispiel bei Wikipedia zu lesen ist.

John Neumeier bei der 225. Ballett-Werkstatt vom Hamburg Ballett: weltberühmt, in der AdK aber nur so etwas wie ein Anhängsel. Foto: Kiran West

Aber wenn man sieht, dass zur Präsentation von John Neumeier – um bei diesem Beispiel zu bleiben – nur ein paar Zeilen über die „West Side Story“ zu lesen sind, obwohl der Mann mit über 160 Balletten weltbekannt wurde und ganz sicher nicht mit seiner einzigen Musical-Inszenierung, dann kommen einem doch Zweifel an der Redlichkeit dieses Projekts.

Womöglich geht es hier nur um pflichtschuldige Bewerbung dessen, was der deutsche Staat in den letzten Jahren mit immensen Fördergeldern auf dem Gebiet des zeitgenössischen freien Tanzes gepusht und finanziert hat, ohne sich auf ein Mindestmaß qualitativer Hochwertigkeit noch auf qualitativ auch nur erwähnenswerte Resonanz verlassen zu können.

Die staatlich geförderte Ballettkultur der Opernhäuser bleibt hier jedenfalls auffallend klein, zumal, wenn man bedenkt, dass ihre Reichweite um ein Vieles größer ist als all die Tanz-Performances, die in Jahrzehnten keine zehntausend Zuschauer haben.

Dass es an den Instituten für Tanz- oder Theaterwissenschaft reichlich Professuren und Lehraufträge dafür gibt, unbedeutende experimentelle Kleinkünstler dokumentarisch zu begleiten, ist sowieso ein versteckter Skandal in unserer Bildungsvielfalt.

Professuren für Balletttanz hingegen, der immerhin eine jahrhundertealte Tradition in Europa – auch in Deutschland – hat, gibt es nur sehr wenige, in Berlin und vielen anderen Städten zum Beispiel gar nicht.

Dieses Missverhältnis, das die öffentliche Hochschulbildung in Sachen Tanz in Deutschland betrifft, spiegelt sich hier in der öffentlichen Ausstellung, die der Allgemeinheit gilt.

 Da zeigt sich noch, wie gründlich die Nazis in den 30er- und 40er-Jahren dem Ballett zusetzten und es – als angeblich dekadent und ansonsten natürlich vorgeblich verschwult – als ernstzunehmende Kunstform zu Gunsten der tänzerischen Gymnastik auszurotten trachteten.

Aus dem öffentlichen Bewusstsein der Bildungselite scheint Ballett seither teilweise immer noch wie verschwunden.

Während die Musikwissenschaftler sich mit Ballettmusiken etwa von Peter I. Tschaikowsky wie selbstverständlich beschäftigten, verweigern die Tanz- und Theaterwissenschaften oftmals den entsprechenden Dienst, sich etwa der Choreografie von Marius Petipa zu „Dornröschen“ oder auch anderen Versionen dessen zu widmen.

Leider weiß dieses AdK-Projekt davon überhaupt nichts; aber es profitiert davon, indem es völlig unbekannte Künstler als angeblich sehr bedeutend präsentiert.

Dabei erblühten erst nach dem Zweiten Weltkrieg mit John Cranko und John Neumeier wieder die Werke wirklicher Größen auf dem Gebiet des Bühnentanzes in Deutschland –  gegen deren reichhaltiges Schaffen grandioser, großartiger, zudem moderner Ballettabende wirkt die in der AdK groß abgehandelte liebenswerte Kleinkünstlerin Valeska Gert doch eher peinlich.

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Vieles andere aber bleibt oberflächlich hier: Über die nicht weltbewegende, aber durchaus spannende Ballettchoreografin Tatjana Gsovsky zum Beispiel erfährt man eigentlich nur, dass sie in Berlin choreografierte. Dabei war so interessant, dass die erwiesene Erotomanin einst von Prag nach Berlin zu Fuß marschierte, nicht aus sportlichen Gründen, sondern weil keine Züge fuhren.

Und von Vaslav Nijinsky, der als bedeutendster Tänzer aller Zeiten gilt und das Zugpferd der Ballets Russes zu ihren besten Zeiten war, kann man nur nachlesen, dass er bei Beendigung seiner Tanzkarriere psychische Probleme hatte, denn es gibt nur einen lapidaren Auszug aus seinen Tagebüchern von 1919 zu lesen.

Wer sich auskennt, entdeckt aber interessante Parallelen und Ähnlichkeiten.

Mary Wigman arbeitete nicht nur mit dem Körper, sondern auch mit dem Kopf. Und sie hinterließ unter anderem aufschlussreiche Arbeitsbücher voller Notate. Zu sehen in der Ausstellung „Das Jahrhundert des Tanzes“ in der Akademie der Künste, Berlin-Tiergarten. Foto: Gisela Sonnenburg

So ähneln die schwungvollen Zeichnungen von Mary Wigman, die sie in ihre Arbeitsbücher kritzelte, den prägnanten Schlieren und Linien, die man aus den Skizzen und Zeichnungen von Nijinsky kennt, die dieser unter großer seelischer Anspannung als Tanzersatz anfertigte.

Die Maßstäbe dieser Ausstellung sollte man sich dennoch nicht aneignen, denn sie kommt nicht darüber hinaus, ein beliebiges Sammelsurium zu sein.

Aber: Es sind hübsche, vor allem sehr selten zu sehende Stücke hier ausgesucht und in schönes theatrales Licht gesetzt worden, und darum lohnt sich der Ausstellungsbesuch.

Schon durch die Anzahl der Exponate wird Mary Wigman als modernem Stern und als schöpferische Pionierin hier ein sehr starkes Gewicht zugesprochen.

Fotos und Arbeitszeugnisse von ihr beschwören ihren freien Geist, dem sich viele damals aktive Künstler begeistert anschlossen.

Der selbstverständlich künstlerisch immer noch herausragende Maler Emil Nolde (der als Erster wirklich expressive Farben erschaffte, auf dem derzeit aber alle herumhacken, weil er zeitweise eine völlig haltlose, antisemitische Einstellung hatte, er wäre nämlich liebend gern ein Mitläufer der Nazis gewesen) war hier sehr hilfreich und schickte Wigman als junges Ding zum Unterricht zu Rudolf von Laban.

Ihre hier ausgestellten Notate zu ihren Arbeiten sind eine Delikatesse, man erkennt die Person und das Werk der Wigman in durchaus erhellender Vielfalt.

Es sind aber auch andere Petitessen zu entdecken, die lexikalisch nachzuforschen durchaus interessant sind.

Jean Weidt alias Hans Weidt wurde von den Nazis seiner Heimat beraubt – und gründete in Paris eine interessante Truppe. Hier ein Programmzettel aus der Ausstellung in der AdK. Foto: Gisela Sonnenburg

Die eher unbekannte Compagnie „Les Ballets Weidt“ ist zum Beispiel mit einem französischen Programmzettel von 1934 vertreten.

 Jean Weidt– der bürgerlich als geborener Hamburger Hans Weidt hieß – war in Deutschland als „der rote Tänzer“ bekannt und ein Arbeitervorbild.

Die Nazis vertrieben ihn aus Deutschland. In Paris konnte er dann immerhin seine Truppe aus professionellen und halbprofessionellen Tänzern zusammenstellen. Sein Stil war expressiv, erkennbar aber vom Ballett kommend. In gewisser Weise könnte man in ihm einen Vorläufer von Maurice Béjart erkennen.

Von diesem wiederum gibt es ein Werkstattgespräch zu entdecken, aber man muss schon gut suchen, um es zu finden.

Insgesamt aber bleibt der Schleier der Trauer, der über dieser Ausstellung hängt wie ein Menetekel. Es ist den Kuratoren nicht gelungen, Visionäres auch visionär zu präsentieren.

Die juvenile Kraft des Ausdruckstanzes übermittelt sich kaum, und die notdürftig an der Rückwand arrangierten großflächigen Videos wirken eher aufdringlich als eindringleich.

Um die Geschichte von Dore Hoyers tragischem Knie zu erfahren, muss man den Horizont dieses Projekts sogar ganz verlassen.

Denn der Katalog druckt zwar ihren Abschiedsbrief ans Leben ab, den sie in der Silvesternacht 1967 schrieb, bevor sie ein aus Südamerika während einer Tournee dorthin mitgenommenes Gift einnahm.

Aber dass sie noch im Alter von 56 Jahren auftrat – zuletzt zwölf Tage vor ihrem Tod – und somit viele Möglichkeiten nutzte, die der Ausdruckstanz im Gegensatz zum Ballett reiferen Menschen bietet, erklärt die Ausstellung nicht.

Das desolate Knie der Tänzerin und Choreografin wurde indes bei exaltiert-berauschenden Sprüngen geschändet, weil sie direkt auf dem Knie statt auf den Füßen landen wollte. Das ist etwas, dass die Damen im Ballett nur sehr selten vollführen müssen. Bei Hoyer aber muss es richtig gekracht haben, was sie nicht davon abhielt, manisch und allein weiter hart an sich zu arbeiten.

Dore Hoyers „restlos aufgebrauchtes Knie“ nennt sie dann selbst als Grund dafür, ihrem Schaffen – und somit ihrem Leben – ein Ende zu bereiten.

Ein trauriges Schicksal, dennoch ein würdevolles.

Vielleicht hätte sich die Ausstellung aber auch auf solche Hintergrundaspekte einlassen sollen, um mehr mitzuteilen, als es die Exponate ohne Kontext machen können.

Doch die Ausstellung ist nur ein Steinchen im Gesamtmosaik des Projekts, das ansonsten aus Performances und Diskussionen, aber auch aus für die Öffentlichkeit geschlossenen Meisterklassen besteht.

Was der Körper erinnert. Zur Aktualität des Tanzerbes“ nennt sich das ganze Projekt.

Das Veranstaltungsprogramm müffelt dann und wann zwar ein wenig nach notdürftig hingefummelten historischen Rekonstruktionen der Moderne, aber dafür werden etliche Stücke gezeigt, die sonst gar nicht mehr zu sehen sind. Ob dabei das Temperament und der Ausdruck stimmen, steht in Frage, aber allein schon die tanztechnische Rekonstruierbarkeit mag für manchen Fan hochinteressant sein.

Etwa der „Danse Macabre. Totentanz I und II“ von Mary Wigman, den das Dance Company Theater Osnabrück am 28. August 2019 imTheatersaal der AdK präsentiert. Patricia Stöckemann hat hier die Projektleitung inne, während  Henrietta Horn für die Rekonstruktion verantwortlich ist.

Eher als Ringelpiez mit Anfassen nimmt sich dagegen „LIGNA: Tanz aller – Ein Bewegungschor“ aus, der am 5. und 8. September 2019 mittags im Hanseatenweg stattfinden soll. Tatsächlich hat Rudolf von Laban, der sich gern freizügig zeigte und mit zwei Frauen in einer Menage à trois als Familienverbund lebte, sich Mitte der 20er-Jahre im letzten Jahrhundert auch als Einheizer der Massen versucht. Die Zuschauer sollten durch Mitmachaktionen „in Schwingungen“ versetzt werden und selbst zu Künstlern werden.

So alt sind die Versuche also schon, Menschen ohne tänzerische Vorbildung dazu zu bringen, ihr natürliches körperliches Phlegma zu Gunsten rhythmischer Bewegungen spontan zu überwinden.

Allerdings hatte Rudolf von Laban noch nicht die bei LIGNA wesentlichen Instrumente zur Inspiration und Transpiration zur Verfügung: kabellose Kopfhörer, aus denen die tanzenden Zuschauer ihre Anweisungen erhalten.

So ganz frei wird dieser Tanz der Willigen dann also nicht sein. Dafür aber kostenlos, als Ausnahme der Regel (normalerweise kostet es hier schon auch Eintrittsgeld).

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Begreift man solche Projekte nicht als vollendete Kulturprodukte, sondern als Bespaßung mit dehnbarem Seriositätsfaktor, ergibt sich vielleicht tatsächlich zumindest ein Anklang an den  großspurigen Anspruch, den eine der sechs KuratorInnen so formuliert: Die Ausstellung würde „im Futur II erzählen“, man hoffe sogar auf ein „Futur III“.

Das ist natürlich ganz großer Unfug und allenfalls geeignet, ungebildeten Politikern Fördergelder für weitere Projekte dieser Art aus der Tasche zu ziehen.

Jeder, der sich in der Grammatik von Ausstellungsinszenierungen auskennt, weiß, dass eine historisierende Ausstellung – die zweifelsohne ihre Berechtigung hat – sich nicht ohne weiteres in eine Zukunftsweisung verwandeln lässt. Da mag man noch so dran drehen und drehen und drehen…

Verantwortlich für diese mühevollen Versuche ist das sechsköpfige Kuratorenteam:

 Nele Hertling, die einst auch Veranstaltungsreihen wie „Tanz im August“ und „Tanz im Winter“ groß machte, Johannes Odenthal, Heike Albrecht, Madeline Ritter, Gabriele Brandstetter und Ong Keng Sen.

Beratend tätig waren weitere fünf scheinbare Koryphäen, darunter die unselige und mich immerzu nur langweilende Tanztheatermacherin Reinhild Hoffmann.

Nun können so viele Köche einen Brei schon mal verderben…

Vor allem aber wünscht man dem historischen wie dem zeitgenössischen freien Tanz in Deutschland mal wieder absolut neuen, erfrischenden Wind.
Gisela Sonnenburg

Bis zum 21. September 2019

www.adk.de

 

 

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